Viele Menschen denken beim Thema „regionale Wolle“ nur eins: kratzig. Aber warum wird Wolle eigentlich als weich oder als kratzig empfunden? Und ist regionale Wolle wirklich immer kratzig? In diesem kurzen Artikel gehe ich dem ein wenig auf den Grund.

Ob Wolle als weich oder kratzig empfunden wird, hängt im Wesentlichen von 3 Faktoren ab. Und ein Spoiler vorab: man kann sich auch an verschiedene Stadien der Weichheit herantasten.

Faktor 1: Die Fasereigenschaften

Faserdurchmesser und Biegsamkeit

Wie kratzig ein Kleidungsstück empfunden wird, hängt mit dem Durchmesser und der Biegsamkeit der Fasern zusammen, aus denen es hergestellt wurde.

Die Faserdicke (bzw. der Faserdurchmesser) wird in Mikrometer (auch Micron genannt) angegeben, also in tausendstel Millimeter (10-6 m). Mir persönlich sagen die Zahlen immer nicht so viel, daher habe ich die Durchmesser verschiedener Faserarten einmal im Verhältnis zueinander in die folgende Abbildung getan.

Faserdurchmesser verschiedener Fasern
Verhältnis verschiedener Faserdurchmesser zueinander. Die Kreise habe ich mit den unten angegebenen Werten in PowerPoint erstellt (1000fache Vergrößerung, 50 µm wurden zu 50 mm).
1 = menschliches Haar, ca. 50 µm;
2 = Corriedale, 27 µm,
3 = Austral. Merino, 17 – 22 µm, abgebildet: 20 µm,
4 = Kaschmir, 16 µm
5 = Baumwolle, 10 – 14 µm, abgebildet: 12 µm
Wenn Du Dich jetzt fragst, wie das mit Alpaka-Fasern ist: Das ist nochmal eine Klasse für sich. Von „Royal“ (19 µm) bis „Alpaka“ (30 µm) ist da alles dabei. Die Feinheit von Alpaka-Fasern kann also zwischen „fast Kaschmir“ und „grob wie Corriedale“ variieren.
(Angaben aus dem Science and Technology Program vom Woolmark Learning Centre, Kurs Wool Fibre Science, Module 3 und 7, Topic 3 sowie diese Webseite für Alpaka)

Je feiner eine Faser ist, desto kleiner ist die Micron-Zahl (also ihr Durchmesser). Feine Fasern biegen sich leichter als dickere Fasern. Fasern, die sich sehr leicht biegen, üben weniger punktuellen Druck auf die Haut aus, reizen die Nervenenden weniger und werden daher als weniger kratzig empfunden.
Dementsprechend werden dickere Fasern auch als pieksiger und unangenehmer empfunden.

Schafe haben nun nicht überall Fasern mit identischen Durchmessern, sondern immer eine Mischung aus verschieden dicken Fasern, einen sogenannten Durchmesserbereich (z. B. 24–32 µm).

Aber Achtung: selbst wenn zwei Wollproben den gleichen Durchmesserbereich haben (z. B. 24 – 32 µm), können sie sich im Gefühl dennoch unterscheiden. Der Grund hierfür liegt in der Verteilung der Durchmesser. Wenn Probe 1 (rot) z. B. deutlich mehr 24 µm-Fasern enthält und Probe 2 (grün) mehr 28 µm-Fasern, wird Probe 1 als weicher wahrgenommen.

Diagramm Durchmesserverteilung bei Fasern und Prickle Factor
Versuch einer Visualisierung der Verteilung von Faserdurchmessern in einer Woll-Probe (Durchmesser-Bereich). Der Durchmesserbereich ist bei beiden Proben ähnlich. Die grüne Probe enthält jedoch im Vergleich zur roten Probe weniger 24 µm-Fasern und mehr 26 µm-Fasern und darüber. Die rote Probe wird dementsprechend als weicher empfunden.

Auch die Schuppenhöhe der Fasern scheint einen Einfluss auf die empfundene Weichheit zu haben. In diesem Artikel kannst Du noch mehr zum Aufbau der Wollfasern nachlesen.

Und dann gibt es noch die kleinen fiesen Stichelhaare. Der Name sagt da einfach mal alles. Stichelhaare sind sehr kurze und sehr spröde Haare, die sich nur schwer biegen und als sehr kratzig empfunden werden. Oftmals kommen sie in Vliesen von mischwolligen Schafen vor (in Garnen aus australischer Merino wirst Du sie definitiv nicht finden). Sie haben die unangenehme Eigenschaft, immer irgendwie an die Oberfläche zu kommen, egal wie tief sie einkardiert wurden. Wenn man die nicht entfernt, bevor man ein Garn aus den Fasern spinnt, dann bekommt man so eine Art Pfeifenputzergarn. Sehr … sagen wir mal: durchblutungsfördernd. Stichelhaare sind aus meiner Erfahrung die pieksigsten Bestandteile von Garnen überhaupt.

Nahaufnahme Stichelhaare Skuddevlies
Nahaufnahme eines Skudde-Vlieses vor dem Waschen. Die Pfeile zeigen auf prominente Stichelhaare, rechts sogar ganze Büschel davon. Wenn man diese Vliesteile zu Garn verarbeitet, bekommt man einen prima Scheuerschwamm.

Der Wool Comfort Factor – Maßeinheit für Weichheit

Wie pieksig Wolle ist, kann man sogar messen. Dafür wurden bereits 2012 spezielle Geräte , die sogenannten „wool comfort meter“, entwickelt und mit tausenden Verbrauchern getestet. Hier findest Du ein sehr informatives Video dazu.

Dieses Gerät bestimmt im Grunde genommen die Anzahl der abstehenden Faserenden auf einer gegebenen textilen Fläche (und ggf. noch ihren Durchmesser). Der ausgegebene Messwert, also die „Maßeinheit der Weichheit“ sozusagen, ist der Wool Comfort Factor. Er gibt den Anteil an Fasern einer Probe an, die feiner als 30 µm (bzw. 28 µm für gewebte Textilien) sind. Je niedriger die Zahl, desto angenehmer ist das Textil auf der Haut.

Die 30 µm-Grenze ist also eine Art Magische Schallgrenze – Fasern darüber gelten als grob.

Faktor 2: Persönliches Empfinden

Manche Menschen reagieren empfindlicher als andere auf die Berührung mit Wollfasern. Während ich Wolle von Rauhwolligen Pommerschen Landschafen auch am Hals tragen kann, ist anderen Menschen selbst Deutsche Merino noch zu kratzig. Die Haut reagiert dann einfach sensibler auf die „Pieks-Reize“ (der englische Begriff „Prickle Factor“ wird oft dafür verwendet, nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Wool Comfort Factor).

Das Pieksen selbst wird durch die Fasern ausgelöst, die auf die Haut drücken. Dadurch reizen sie feine Nervenenden in der Haut. Drücken die Fasern nur ganz leicht auf die Haut, wird eine Faser als weich empfunden, drücken sie stärker und dellen die Haut stärker ein, werden sie auch als kratziger empfunden. Ein bisschen lässt sich das vielleicht mit weichen oder harten Zahnbürsten vergleichen. Weiche Borsten reizen die Haut weniger als harte, weil weiche Borsten weniger punktuellen Druckreiz ausüben.

Schematische Darstellung Prickle Factor
Ich habe mich hier mal an einer Zeichnung versucht. Links sind die feineren, biegsamen Fasern zu sehen, die die Nervenenden in der Haut (gelbe Verästelungen) weniger reizen. Rechts sind weniger biegsame Fasern mit höherem Prickle Factor gezeichnet.

Und hier kommt aus meiner Sicht das individuelle Empfinden ins Spiel. Diese Magische Schallgrenze von 30 µm ist ein Wert, der aus der Befragung tausender Probanden ermittelt wurde. Aber wie bitte bildet man den Mittelwert aus individuellen Empfindungen? Es ist der Versuch, Gefühle in Zahlen auszudrücken – ein reichlich schwieriges Unterfangen.

Es gibt etliche Schafrassen, deren Wolle nahe oder jenseits der 30 µm-Grenze liegt, die aber dennoch an der Haut getragen werden können. Dazu gehören beispielsweise Gotländisches Pelzschaf (28 – 32 µm), Wensleydale (30 – 36 µm) und Skudde (32 – 40 µm): Alle diese Fasern kann ich problemlos auf der Haut tragen, sogar am Hals. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen, sondern es war ein Prozess, in dessen Verlauf sich mein Empfinden für Wolle verändert hat.

Ehrlicherweise muss ich aber auch sagen: Nicht jedes Garn bzw. jede Faser ist dafür gemacht, an der Haut getragen zu werden.

Faktor 3: Verarbeitung der Faser und des Textils

Letztlich entscheidet auch immer die Verarbeitung der jeweiligen Faser darüber, wie sie auf der Haut empfunden wird. Wurde die Faser fest oder locker gesponnen? Wurde der Faden gewebt oder gestrickt (und auch hier wieder: locker oder fest)? Welche Art Textil wurde hergestellt und wofür wird es verwendet – Schal, Pullover, Socken?

Fasern, die mit zu viel Drall gesponnen wurden, ergeben immer ein Garn, das sich relativ hart anfühlt. Ein hartes Garn kann weder durch Weben noch durch Stricken oder Häkeln flauschiger werden.

Manchmal wird ein Garn weniger kratzig, wenn man die Fasern beim Spinnen glattstreicht (wie z. B. bei einem Kammgarn). Es stehen dann nicht so viele Enden nach außen, die die Haut reizen können. Dafür muss man aber Abstriche bei den Isolationseigenschaften machen.

Meine persönliche Entdeckungsreise jenseits des Flausch-Lands

Früher war für mich „weich“ das Hauptkriterium beim Wollkauf, gleich nach „Farbe“. Irgendwann begann ich mich aber dafür zu interessieren, wie sich die Wollen verschiedener Schafrassen voneinander unterscheiden. Ich fing also an, zu spinnen. Und da öffnete sich eine ganz neue Welt. „Weich“ gab es auf einmal in vielen Varianten. „Weich“ reichte nicht mehr aus, um eine Empfindung zu beschreiben. Es gab trocken-weich, bouncy, seidig und glatt, matt und flauschig, griffig und elastisch … und ja, es gab auch kratzige Wolle. Aber nur, wenn sie Stichelhaare enthielt.

Strickprobe Skudde Armband Prickle Factor
Dieses Armband war quasi eine Strickprobe von Frodo, der bunten Skudde. Man sieht deutlich, wie viele Härchen aus dem Garn herausstehen, aber es ist so weich und flauschig, dass ich tagsüber vergessen habe, dass ich es trage!

Das beste Beispiel ist Skudde-Wolle. Skudde hatte ich bis dahin noch nie verarbeitet, aber jede(r), mit dem/ der ich über Skudden sprach, wusste zu berichten, dass das sehr kratzige Wolle ist. Erst als ich für mich selbst eine Spinn- und Strickprobe anfertigte, stellte ich fest, dass dem gar nicht so ist!

Für mich hat sich also das alte Sprichwort bestätigt: Probieren geht über Studieren. Und jeder empfindet „weich“ und „kratzig“ ja anders. Ich habe mich an verschiedene Stadien von „weich“ gewöhnt und so neue Erfahrungen gewonnen.

Vielleicht muss man auch mal überlegen, wie man „weich“ oder „kratzig“ definiert. Oder ob man sein Vokabular um Begriffe wie „wollig“, „griffig“, „elastisch“ oder „seidig glänzend“ erweitert. Und vielleicht muss ein Garn auch nicht immer nur weich sein. Aber das ist ein Thema für einen anderen Blogartikel…


Literatur

Barbara Aufenanger „Das Wollprojekt. Wolleigenschaften in Deutschland gehaltener Schafrassen“. ISBN 978-3-00-040686-7

Deborah Robson, Carol Ekarius „Fleece and Fiber Sourcebook“. ISBN 978-1-60342-711-1