Ein Blog über Schafe, Wolle und Handspinnen

Kategorie: Wollverarbeitung

Hintergrundwissen zu Themen rund um Fasern, Garne und Schafe

Tweedgarne aus Garnresten herstellen (featuring: die Skudde!)

Kann man eigentlich Garnreste verwenden, um wieder neue Garne herzustellen? Diese Frage kam auf, während ich mit Mona auf dem Sofa saß und wir aus Skudde-Wolle Rolags kardierten. Ich kenne nur eine einzige Firma, die Garnreste in ihre Garne einarbeiten lässt, der Prozess ist also offenbar nicht so ganz trivial. Ich wollte es mal wieder genauer wissen und startete ein Experiment, um der Frage auf den Grund zu gehen. In diesem Artikel zeige ich Dir, wie ich Garnreste aufbereitet habe, warum das nicht so einfach war, und warum Sari-Seide auch nicht die Lösung ist.

Was ist eigentlich „Tweed“?

Das erwähnte, mit Garnresten hergestellte kommerzielle Garn ist von Hedgehog Fibres. Es hat einen gewissen Tweed-Charakter und viele interessante bunte Sprenkel. „Tweed“ ist aber eigentlich weniger die Bezeichnung für ein Garn, sondern eher für einen bestimmten Stoff mit charakteristischem Aussehen. Dieser Stoff wird traditionell aus Wolle von Cheviot- und Scottish Blackface-Schafen hergestellt (das sagt zumindest Wikipedia über Harris Tweed).

Das Besondere ist: gefärbt wird die Wollflocke und nicht das fertig gesponnene Garn. Durch Mischen verschieden gefärbter Wollflocken nach genauen Rezepten schon vor dem Kardieren entstehen dann beim Kardieren fein nuancierte Farbtöne. Die Farbe entsteht also durch optische Mischung vieler Farben und wirkt dadurch viel lebendiger als Stoffe, die im Garn gefärbt wurden. Wenn die Fasern dabei nicht zu 100 % gleichmäßig gemischt sind, bleiben im Garn manchmal kleine andersfarbige „Speckles“ oder Nuppsies. Die beleben das Garn und vermitteln den Tweed-Charakter, den die meisten von uns vor Augen haben, wenn wir an „Tweed“ denken. Wer sich genauer dazu informieren möchte, findet auf der Website von Harris Tweed viele Informationen.

Harris Tweed Stoffe in blau und schwarz weiß
Zwei verschiedene Harris-Tweed-Stoffe. Hier wurden Stoff-Reste zu Projekttaschen verarbeitet.

Wie kann ich den Tweed-Effekt erzeugen?

Wie kann ich nun (ohne 30 Portionen Wolle in der Flocke zu färben) mit Fasern aus meinem Vorrat den Tweed-Effekt imitieren? Wie muss ich die Materialien vorbereiten und einsetzen, um den gewünschten Effekt zu erreichen?

Der erste Anstoß kam, ich sagte es schon, durch den Besuch von Mona. Mona webt sehr gerne Schals für ihr Projekt #fromfarmtoscarf. Mittlerweile sind es über 40 Schals, und über die Zeit sammelten sich bei ihr viele Garnreste an, für die sie eine sinnvolle Verwendung suchte. Wir hatten uns für das Skudde-Projekt mit Fibershed DACH getroffen und ich zeigte Mona, wie man Wolle kardiert und mit der Handspindel spinnt. Und als wir dann ihre Garnreste mit den Skuddefasern zusammen kardierten, kamen sehr interessante Garne heraus.

Sofort ploppten die Ideen in meinem Kopf hoch. Und wie dann das so ist im Hause faserexperimente – das wollte ich mir unbedingt noch näher ansehen und auch mit anderen Materialien und Herangehensweisen experimentieren. Ich hatte da nämlich noch recycelte Sariseide irgendwo in einer Kiste … Und waren nicht vor einiger Zeit mal „Tweed”-Kammzüge in Mode? Mit Farb-Nuppsies aus Viskose? Richtig, in den Tiefen meines Vorrates fand ich einen (ein Impulskauf am Ende eines sehr schönen Wollefestes in Leipzig). Ich war also bestens präpariert – es konnte losgehen!

Das Ausgangsmaterial

Diese Materialien und Quellen habe ich verwendet:

Vorversuch: Garnreste mit Handkarden einkardieren

Für die Vorversuche mit Mona hatte ich entgrannte Wolle von Bunten Skudden mit der Hand zu Rolags kardiert. Die Fasern waren ca. 4 cm lang. Während des Kardiervorganges legte ich Garnreste längs zwischen die Fasern und kardierte sie mit ein.

Nahaufnahme Rolags Skudde Wolle (entgrannt, hellgrau) mit einkardierten Garnresten.
Die in die Rolags einkardierten Garnreste lagen quer zur Spinnrichtung und waren insgesamt gut eingearbeitet.

Die Garnreste waren alle ca. 2 – 4 cm lang. Zuerst legte ich die kompletten Fäden (meist zweifach gezwirnt) ein. Beim Spinnen merkte ich, dass diese Fäden durch ihre Dicke sich nicht so gut mit den umliegenden Fasern verbinden und herausstehen. Ich ging dann dazu über, die Garnreste in ihre Einzelfäden zu trennen, bevor ich sie auf die Karde legte. Das gefiel mir besser und die einzelnen Fäden verbanden sich sehr gut mit den Fasern zum Faden.

Durch die Rolag-Struktur und das Spinnen im langen Auszug wurden die bunten Garnreste gut in den entstehenden Faden eingezogen und ich musste nicht sehr viel mit den Fingern manipulieren.

Ergebnis

Das Ergebnis waren Garne mit längeren, farblich abgesetzten Abschnitten im Faden. Beim Zwirnen mit sich selbst traf ein bunter Abschnitt überwiegend einen weißen Abschnitt, sodass eine Art „barber-pole“- oder Zuckerstangen-Effekt entstand.

Nahaufnahme Skudde-Tweedgarn mit Garnresten.
Vorversuche mit Garnschnipseln von Monas gewebten Schals. Das Bild wurde mir freundlicherweise von Mona Knorr zur Verfügung gestellt.

Im Gewebe sah das sehr schön und dezent aus:

Schal handgewebt mit grau weißem Garn und bunten Sprenkeln.
Bei diesem Schal hat Mona einen Streifen des „Tweed“-Garns mit eingewebt.

Versuch 1: Garnreste mit der Trommelkarde einkardieren

Das Kardieren von Rolags ist an sich eine sehr meditative Sache. Allerdings dauert es seine Zeit. Im nächsten Versuch wollte ich es mit der Trommelkarde versuchen, denn damit geht Kardieren um ein Vielfaches schneller. Das dabei entstehende Batt spinnt sich etwas anders als die Rolags, nicht ganz so luftig.

Zu Hilfe kam mir auch ein Artikel aus der PLY (Ausgabe 37 / Sommer 2020, S. 10 ff)). Dort stand, man kann die Fadenreste auch mit Hundebürsten aufrauhen, bevor man sie auf die Trommelkarde gibt. Aha! Also hab ich die Hundebürsten geholt und Fasern aufgerubbelt.

Hundebürste mit aufgearbeiteten Garnresten
So ungefähr sahen die Garnreste nach der Bearbeitung mit der Hundebürste aus – etwas strubbelig, aber ansonsten noch relativ unbeeindruckt.

Dazu habe ich Fadenreste, so wie sie kamen, auf die Hundebürste gelegt und “kardiert”. Hmmm. Die Metall-Borsten der Hundebürsten sehen zwar aus wie die bei meinen Handkarden, sie sind aber viel weicher und biegsamer. So richtig was anhaben konnten sie den Fadenresten nichts. Die waren nach der Behandlung immer noch als solche erkennbar (wenn auch oberflächlich deutlich aufgerauht).

Nun, nur Versuch macht kluch, und so kardierte ich jeweils 5g aufgerauhte Fadenreste und 50g Kardenband zusammen auf der Trommelkarde in insgesamt 2 Durchgängen. Fasern und Fadenreste habe ich in mehreren Schichten abwechselnd aufgebracht, dabei habe ich die Fadenreste direkt auf die Trommel gelegt und nicht über den Anschiebetisch zugegeben.

Die Batts habe ich längs in 4 Streifen geteilt und diese Streifen nacheinander von der Spitze im (mehr oder weniger) langen Auszug gesponnen, jedes Batt auf eine Spule. Die Fäden der beiden Spulen habe ich anschließend miteinander verzwirnt.

Ergebnis

Wie ich schon vermutet hatte, stellte sich heraus, dass sich die Fadenreste nicht so gut einarbeiten ließen und oftmals aus dem Garn hervorstanden. Das Spinnen war dadurch etwas mühsam, denn ich musste viel mit den Fingern eingreifen und manipulieren, damit die Garnreste nicht einfach aus dem gesponnenen Faden rausfallen.

Nahaufnahme Skudde Tweedgarn mit groben Garnresten
Garn Nummer 1 war an manchen Stellen sehr dick und dünn durch die doch recht kompakt gebliebenen Garnreste im Faden. Manchmal verband sich der Garnrest auch nicht gut mit dem versponnenen Faden.

An manchen Stellen ist das fertige Garn sehr unregelmäßig und dick und dünn, vor allem dort, wo zwei Fadenreste im gezwirnten Garn aufeinandertreffen.

Versuch 2: Garnreste aufbereiten und dann auf der Trommelkarde einkardieren

Wenn die Fadenreste gut in den Faden integriert werden sollen, kommt man wohl offenbar um eine ordentliche Vorbereitung der Fadenreste nicht herum. Also hab ich in den sauren Apfel gebissen und mit einem guten Hörbuch auf den Ohren jeden Faden in seine Einzelfäden zerlegt und anschließend mit einer richtigen Handkarde (72 tpi) bearbeitet, bis ich ein flauschiges buntes kleines Batt erhielt. Für die 10 g Fäden habe ich ca. eine Stunde gebraucht.

fein kardierte und vorbereitete Garnreste für Skudde Tweed Garn
Mit etwas mehr Aufbereitung waren die Garnreste deutlich fluffiger und ließen sich besser einarbeiten. Allerdings war dieser Arbeitsschritt durchaus aufwändig.

Auch hier habe ich wieder 2 × 50 g Kardenband und je 5 g aufbereitete Fadenreste auf der Trommelkarde in zwei Durchgängen kardiert. Die Batts habe ich ebenfalls wieder längs in vier Streifen geteilt und im mehr oder weniger langen Auszug gesponnen.

Ergebnis

Das sah doch schon sehr viel besser aus! Die Fäden integrierten sich deutlich leichter und standen nicht mehr so aus dem Garn heraus. Das Garn war gleichmäßiger und nicht mehr stellenweise sehr dick (wo zwei Fadenreste plus die Skudde-Fasern aufeinandertrafen).

Skudde-Tweegarn aus Garnresten (fein vorbereitet) in grau mit bunten Sprenkeln
Im zweiten Versuch mit etwas sorgfältigerer Aufbereitung der Garnreste war das neu gesponnene Garn deutlich gleichmäßiger und die Sprenkel etwas dezenter.

So richtig „tweedig“ wirkte das Garn allerdings noch nicht…

Versuch 3: blaue Sariseide auf der Trommelkarde einkardieren

Um dem Tweed-Charakter etwas näher zu kommen, wollte ich es jetzt durch Mischen der Fasern mit recycelter Sari-Seide probieren.

Recycelte Sari-Seide im Kammzug gibt es in vielen verschiedenen leuchtenden Farben im online-Handel zu kaufen. In weiser Voraussicht (hüstel) hatte ich vor einigen Jahren verschiedene Farben gekauft und seitdem gestreichelt und gehütet, bis die richtige Faser um die Ecke kam. Enter stage left: Skudde-Kardenband. Ich holte also die Kiste mit Sari-Seide aus dem Keller und fing an abzuwiegen. Keine Vorbereitung nötig, einfach wiegen und dann los, yay!

Wie auch bei den Fadenresten habe ich zwei Portionen Kardenband und Sariseide abgewogen (jeweils 50 g bzw. 5 g) und in zwei Durchgängen zu zwei Batts kardiert. Auch hier habe ich wieder abwechselnd viele dünne Schichten Skudde und Seide aufgetragen. Das Kardenband lief normal über den Anschiebetisch, die Sariseide ließ ich direkt auf die Trommel laufen.

Nahaufnahme Batt Skudde Sariseide blau Tweed
Im Batt sah das Ganze sehr schön gesprenkelt und bunt getupft aus. Skudde mit Sariseide in blau.

Die fertigen Batts habe ich, genau wie oben beschrieben, wieder längs in vier Streifen gerissen und im langen Auszug auf zwei Spulen gesponnen. Die fertigen beiden Singles habe ich miteinander verzwirnt.

Und dann ist es passiert.

(cue: dramatische Musik)

Ich hab das fertige Garn im Entspannungsbad vergessen.

Das Waschwasser war tief blau.

Ihr ahnt es schon: Die Sariseide hat stark ausgeblutet. Seufz.

Ergebnis

Das Garn hat Farbnupsies, ist aber mit einem lila Farbton überlegt.

Nahaufnahme Skudde Tweeg Garn mit Sari-Seide blau grau
Das Garn hat einen deutlichen Blau-Lila-Stich. Die Farbsprenkel gefallen mir aber sehr gut.

Meine Vermutung: Farbreste aus der Sariseide haben sich herausgelöst und auf die Wollfasern gelegt. Man kennt das Phänomen des Ausblutens von handgefärbten Garnen. Dabei werden beim Waschen des fertigen Strickstücks überschüssige Farbpigmente ausgespült. An sich ist es nicht dramatisch, solange man einfarbige Strickstücke hat. Bei zweifarbigen Mustern führt es aber dazu, dass die ausgewaschenen Pigmente der einen Farbe vom Garn der anderen Farbe (vorzugsweise von weiß) aufgenommen werden. Dann hat man z. B. nicht mehr ein blau-weißes, sondern ein blau-hellblaues Muster … sehr ärgerlich. Und in meinem Fall wollte ich eigentlich schönes hellgraues Garn mit einigen blauen Sprenkeln. Nunja.

In all dem Ärger fragte ich mich dann: woher kommt eigentlich diese recycelte Sari-Seide? Bislang dachte ich immer, die wird farblich sortiert aufbereitet, aber so wie das ausblutet, ist das eher einfach nochmal gefärbt worden. Und schon hab ich gar nicht mehr ein so schönes Gefühl dabei, recycelte Sari-Seide zu verwenden…

Versuch 4: nochmal Sariseide und nicht zu lange waschen

Nun musste ich natürlich diesen Versuch wiederholen. Bei längerem Überlegen kam mir nämlich noch die Idee, dass im Falle der Sari-Seide ja auch die Fasern etwas anders gemischt wurden. Die Sari-Seide war sehr fein verteilt in den Skudde-Fasern, und beim Spinnen könnte es auch zu optischen Misch-Effekten kommen. Um zu schauen, ob dieser lila Unterton nur durch das Ausbluten verursacht wird oder auf optische Mischung der Fasern zurückzuführen ist, wollte ich dieses Mal nur ganz ganz kurz waschen, um ein Ausbluten der Farben zu verhindern.

Zum Glück hatte ich noch ausreichend Kardenband und Sariseide, allerdings keine blaue mehr, sondern nur noch rote. In der Hoffnung, dass sich rote Farbstoffe ähnlich verhalten wie blaue, damit die Vergleichbarkeit beider Versuche gegeben ist, wog ich nochmal Fasern ab. Zweimal 50 g Kardenband und 5 g Seide, zwei Batts, zwei Fäden, ein Garn. Definitiv nicht im Waschwasser vergessen (das Waschwasser war definitiv nicht so stark verfärbt). Und doch….

Ergebnis

Das fertige Garn hat definitiv einen Rotschimmer. Demzufolge ist nicht alleine ein Ausbluten der Farbstoffe in der Sariseide die Ursache für den Schimmer, sondern die feine Mischung der Fasern im Batt und beim Spinnen spielt mindestens eine ähnliche Rolle für das Erscheinungsbild des fertigen Garnes. Dazu kommt, dass ich den Faden relativ fein gesponnen habe – dadurch wird der Effekt der optischen Mischung auch stärker, als es bei einem dicken Garn der Fall wäre. Statt feiner, klar abgegrenzter Farbkleckse entstand so beim Spinnen dieser Schleier. Das wollte ich so eigentlich nicht.

Versuch 5: Der „Tweed“ – Kammzug

Dann war da ja noch der kommerzielle Tweed-Kammzug, von ganz unten im Faservorrat. Und weil das quasi wie Tütensuppe zum Spinnen ist und keine Vorbereitung erforderlich war, hab ich den auch noch schnell versponnen. Als Vergleich, sozsagen.

Nahaufnahme Tweed-Kammzug von Dibadu
Solche „Tweed“-Kammzüge waren vor einigen Jahren mal unter Spinner:innen sehr beliebt.

Leider konnte ich dem Label nicht entnehmen, welche Schafrasse das war. Die bunten Sprenkel waren aus Viskose, die eine andere Farbe als die Fasern hatte. Demzufolge war dieser Kammzug nicht handgefärbt, sondern wurde ziemlich sicher rein industriell hergestellt.

Die Fasern (und auch das fertige Garn) waren jedenfalls deutlich weicher als die Skuddefasern in den anderen Garnen. Und irgendwie …nichtssagender? charakterloser? Ich bin nicht ganz sicher, wie ich es beschreiben soll. Nichtssagend weich. Ja, das trifft es einigermaßen.

Versponnenes Single aus dem Tweed-Kammzug. Die Viskose-Nuppsies fielen beim Spinnen immer mal heraus und saßen nicht wirklich fest.

Das Garn hatte Nuppsies (aus Viskose), die teilweise während des Spinnens herausfielen. Es sieht nicht schlecht aus, ist sehr gleichmäßig, und der tweedige Charakter ist definitiv vorhanden.

Nahaufnahme handgesponnenes Tweed Garn in Rot-Tönen (Dibadu)
Das ist der fertig gesponnene „Tweed“-Kammzug. Farblich…so ganz anders als die Skudde-Garne.

Es ist aber ein bisschen doll bunt für meinen Geschmack. Der Tweed-Charakter, der ja eigentlich eher dezenter Natur ist, geht vor den bunten Farben etwas verloren.

Fazit: Das schönste Tweed-Garn von allen

Was habe ich nun gelernt? Und welches Garn ist das schönste?

handgesponnene Skudde Tweed Garne in Grautönen
Hier sind nun die ersten vier Skudde-„Tweed“-Garne: v.l.n.r. Nr. 3 (blaue Sariseide), Nr. 4 (rote Sariseide), Nr. 1 (grobe Garnreste) und Nr. 2 (fein aufgearbeitete Garnreste). Garn Nr. 4 mit roter Sariseide wohnt mittlerweile bei Mona und wird vielleicht eines Tages zu einem schönen Schal. Man sieht deutlich, wie die linken beiden Stränge einen blauen bzw. rötlichen Farbstich haben im Vergleich zu den linken beiden Strängen.

1. Garnreste einkardieren ist nicht so einfach, wie es klingt (jedenfalls nicht, wenn das Ergebnis gut werden soll). Im Nachhinein würde ich sagen: Am besten arbeitet es sich mit dem Rolags, denn durch die Röllchenform und die Verwirbelung der Fasern werden die einkardierten Fäden quasi in den entstehenden Faden hineingezogen. Beim Spinnen aus den geteilten Batts standen die Fäden eher mal heraus und waren etwas störrischer beim Einarbeiten. Wie bei vielem lohnt sich also auch hier das langsamere Arbeiten und der Extra-Arbeitsschritt.

2. Die gute Vorbereitung der Garnfäden ist ein Extra-Arbeitsschritt, der sich lohnt, wenn die Garnreste gut in das neue Garn integriert werden sollen. Hundebürsten haben zu weiche Borsten, es müssen aus meiner Erfahrung schon Handkarden sein.

3. Auflegen ist vermutlich besser als Auflaufen lassen. Beim Einkardieren von Sari-Seide wäre es für weniger „Schleier-Effekt“ vermutlich besser gewesen, die Seide nicht bei drehender Trommel auf die Trommelkarde auflaufen zu lassen, sondern bei stehender Trommel einzelne Tupfen zu setzen. Vermutlich war es auch viel zu viel Seide. 10 % erschien mir ausreichend niedrig. Bei einem nächsten Versuch würde ich es vielleicht mit 5 % und Auflegen versuchen.

Die entstandenen Garne sind alle recht unterschiedlich (nicht nur durch die Farben und die verwendeten Materialien), aber sie gefallen mir auf ihre Weise alle gut. Und wie ich über die Jahre gelernt habe, liegt die Wahrheit nicht nur im Garn, sondern darüber hinaus auch in der fertigen Probe. Ich wollte also wissen: wie sehen die Garne verarbeitet aus? Die Pröbchen vom Zoom Loom haben es gezeigt:

Zoom Loom Proben der handgesponnenen Tweedgarne aus Garnresten und Sariseide
Webproben der fertigen „Tweed“-Garne. Garn 1 u.r. , Garn 2 o.r. , Garn 3 u.l., Garn 4 o.l. Von Garn Nr. 5 habe ich keine Webprobe gemacht.

Das Garn Nr. 1 mit den grob vorbereiteten Garnresten (unten rechts) gibt deutliche bunte Sprenkel und Farbtupfer. Durch die Leinwandbindung werden längere bunte Stücke etwas unterbrochen und das Ganze kommt dem “Nuppsi”-Charakter etwas näher.

Garn Nr. 2 mit den feineren und besser eingearbeiteten Fadenresten (oben rechts) ergibt zumindest in dem Probestück auch dezentere Farbtupfer. Der Unterschied zu Garn Nr. 1 ist deutlich. Und obwohl ich Garn Nr. 2 eigentlich schöner finde, gefällt mir Garn Nr. 1 im Webstück deutlich besser. Es zeigt sich wieder: die Wahrheit liegt im fertigen Stück und nicht unbedingt im Garn!

Die Garne mit der Sariseide (Nr. 3 und 4) haben den jeweiligen farblichen Unterton der verwendeten Seide. Die farblichen Sprenkel sind wiederum eher dezent, sodass die textile Fläche recht einheitlich wirkt. Für ein graues Garn mit bunten Sprenkeln war diese Methode nicht geeignet. Die Garne sind aber trotzdem schön, und wenn ich mehr davon hätte, könnte ich mir einen zweifarbigen Norweger-Pullover daraus vorstellen. Ich darf ihn nur nicht im Ennspannungsbad vergessen…

Garn Nr. 5 ist nett, aber ich finde, es kann mit den anderen Garnen nicht ganz mithalten. Der dezente Tweed-Charakter wird durch die bunten Farben etwas zunichte gemacht. Für dieses Garn habe ich dann nicht mal mehr den Zoom Loom bemüht – dezenter würde es wohl auch gewebt nicht werden… Als Farbtupfer gemischt mit neutraleren Garnen kann ich mir dieses Garn aber gut vorstellen.

… zuguterletzt

Und als ich fertig war mit meinem Experiment, was hab ich da gefunden?

Natürlich ein tolles Video von Chanti zur Herstellung von Garnen aus Garnresten, die die gleiche Idee etwas früher hatte (lach). Schaut mal bei ihr vorbei, sie zeigt eine etwas effizientere Methode der Vorbereitung der Garnreste.

In ihrem Videopodcast spricht Antje Vajen mit dem Tweed-Weber Hans Merkel (zu sehen auf youtube).


Was ist Mulesing? Ein Versuch zur Einordnung einer umstrittenen Praxis

„Wolle ist Tierquälerei“. Dieses Statement habe ich früher nie verstanden. Scheren tut dem Schaf doch nicht weh, das ist doch wie Haareschneiden, oder? Und dann, es muss um 2009 gewesen sein, hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Mulesing“. Ich begann, mich zu diesem Thema zu informieren, und ich war erst einmal entsetzt. Aber je tiefer ich mich damit beschäftigte, desto klarer wurde mir: Es gibt nicht nur schwarz und weiß, sondern auch viele Schattierungen dazwischen. In diesem Artikel versuche ich, das Thema von mehreren Seiten zu beleuchten und den aktuellen Stand der Dinge wiederzugeben.

Mulesing – eine brutale Praxis

Mulesing ist – stark verkürzt – eine Methode, bei der Schafen ohne Betäubung bewollte Hautfalten am Hinterteil chirurgisch entfernt werden, um einen parasitären Befall mit Fliegenlarven zu verhindern. Das sich bildende Narbengewebe ist nicht mehr bewollt und bietet den Fliegenlarven keine Nahrungsgrundlage mehr. Mittlerweile haben schon viele Menschen von dieser tierquälerischen Praxis gehört und wer sicher sein will, Wolle ohne Tierleid zu kaufen (ob als Garn oder fertiges Textil), achtet dabei auf den Zusatz „mulesingfrei“.

Aber was steckt eigentlich genau dahinter? Warum gibt es diese Praxis, welchen Zweck erfüllt sie, und wie ist der heutige Stand der Entwicklung? Seit ich mich das letzte Mal tiefer mit dem Thema beschäftigt habe, ist viel passiert. Wenn ich aber den Begriff „Mulesing“ oder „mulesingfreie Wolle“ in die Suchmaschine eingebe, bekomme ich eine Reihe von Beiträgen angezeigt, die meist in verkürzter und teilweise polarisierender Art und Weise zu diesem Thema informieren. Wirkliche Zusammenhänge konnte ich nur in wissenschaftlichen Fachartikeln finden. Das Thema ist nämlich ist nicht so schwarz-weiß, wie es oft dargestellt wird, und das möchte ich hier beleuchten.

In diesem Artikel werde ich keine Bilder zeigen. Dadurch leidet zwar wahrscheinlich die Lesbarkeit, aber mir reichen ehrlich gesagt die Bilder in meinem Kopf, um mich um den Schlaf zu bringen …

Das Problem: Myiasis, der gefürchtete „Flystrike“

Bevor wir uns das Mulesing aber genauer anschauen, werfen wir einen Blick auf die Krankheit, gegen die es schützen soll: Myiasis, den Fliegenbefall (auf Englisch: Flystrike).

Fliegen (v.a. Schmeißfliegen) werden von übelriechenden, feuchten und warmen Teilen eines Schafvlieses angezogen. Oft sind das Teile des Körpers, die regelmäßig verkotet und nass werden. Das sind z. B. bei Durchfall die Schwanz- und die Urogenitalregion (sog. tail bzw. breech strike) oder aber Stellen auf dem Körper, die bei nassem Wetter nicht richtig trocknen können, wie z. B. Achselregionen (sog. body strike). Die Fliegen legen dort ihre Eier ab, so sind sie vor dem Austrocknen geschützt und haben es warm. Irgendwann schlüpfen dann kleine Larven, die auf der Suche nach Nahrung zwar erst den im Vlies enthaltenen Dung fressen, die aber auch vor dem lebenden Fleisch ihres Wirtes nicht haltmachen – das Schaf wird quasi bei lebendigem Leib aufgefressen. Die Schafe zeigen erst recht spät Anzeichen von Unwohlsein, sie werden unruhig, können nicht mehr stillstehen und versuchen, betroffene Stellen zu schubbern und zu beißen.

Wie sieht Flystrike bei einem Schaf aus?

In dem Buch „Counting Sheep“ beschreibt der britische Schäfer Philip Walling sehr plastisch, was passiert, wenn ein Schaf (in diesem Falle ein Lincoln-Schaf mit sehr dichter schwerer Wolle) von Fliegenmaden befallen ist und der Befall nicht rechtzeitig entdeckt wird. (Ich habe das Buch auf Englisch, dies ist meine eigene freie Übersetzung).

„Einmal begegnete ich einem jungen Schaf, das von Schwärmen von Schmeißfliegen bedrängt wurde. Es hatte nicht die Kraft wegzulaufen, und ich sah auch sofort warum: Das Vlies, das an einem langen Streifen verfaulter Haut an seinem Hinterteil und den Flanken hing, löste sich in meinen Händen und brachte eine brodelnde Masse Maden zum Vorschein, die sich an seinem Fleisch vollfrass. Sie krabbelten rein und raus aus Anus und Vulva, die sie teilweise weggefressen hatten.(…) Ich würgte, als ich das verlorene Tier zum nächsten Baum zog, um es festzubinden und als ich nach Hause rannte, um mein Gewehr zu holen. (…)“

Phillip Walling in “Counting Sheep”

Ich lasse das jetzt mal kurz so stehen.

Flystrike ist eine sehr langsame und brutale Art zu sterben. Das Schaf kann sich nicht dagegen wehren. Wenn der Befall nicht rechtzeitig erkannt und behandelt wird, hat das Schaf keine Chance.

Wo kommt Flystrike vor?

Flystrike kommt hauptsächlich in Australien vor, denn hier kommen vier folgenschwere Faktoren zusammen, die diese Krankheit zu einem großen Problem werden lassen:

  1. Besonders faltige und damit für Flystrike anfällige Schafe (die Vermont-Variante des Merinoschafs, dazu gleich mehr),
  2. Sehr große Herden, die nur extensiv betreut werden können. Eine tägliche Kontrolle aller Tiere, wie sie hier in Deutschland vorgeschrieben ist, ist dort nicht möglich.
  3. Die Einschleppung einer neuen Fliegenart (Lucilia cuprina), die Flystrike verursachen konnte,
  4. Ein warmes Klima.

Flystrike an sich ist dabei nichts Neues, denn wo Schafe sind, sind oft auch Fliegen. Auch in Großbritannien und Neuseeland gibt es Fälle (siehe obiges Zitat), aber das Problem ist weniger gravierend, weil dort nicht die genannten vier Faktoren zusammentreffen.

Bis Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts war Flystrike auch in Australien kein besonders großes Problem, da die Schafe keine Falten und keine Wolle an ihrem Hinterteil hatten. Das änderte sich mit der Einführung des stark faltigen Vermont-Merinoschafs (auch bei Wikipedia nachzulesen), das in den 1880er Jahren nach Australien gebracht und weitergezüchtet wurde. Man war der Meinung, mit den Falten die Hautoberfläche und somit den Wollertrag pro Tier vergrößern zu können.

Unglücklicherweise stellte sich aber heraus, dass die Vliesqualität der Vermont-Schafe schlechter war als bei den bis dato in Australien gezüchteten Merinos. Sie hatten zwar ein höheres Rohvliesgewicht, aber aufgrund des hohen Wollfettgehaltes brachten sie weniger Reinwolle (Gewicht der Wolle nach dem Waschen). Der höhere Wollfettgehalt und die Falten machten die Tiere deutlich anfälliger für flystrike. Die Wolle war weniger homogen, weniger fein, und die Ablammungsrate war geringer. Warum sie trotzdem weitergezüchtet wurden, ist mir nicht ganz klar geworden.

Die faltigen Schafe waren nun da. Aber wie kam die Fliege nach Australien? Man weiß es nicht genau. Als sie aber da war, fühlte sie sich auf den Schafen sofort heimisch und sorgte für sehr viel Tierleid und hohe Verluste. Diese Verluste waren durchaus ökonomischer Natur, denn die Wolle war damals noch viel mehr wert. Starb ein Tier, so ging nicht nur der Fleischertrag verloren, sondern auch der Wollertrag.

Die „Lösung“: Mulesing, das Entfernen der Hautfalten

Wie konnte man nun in Australien die vielen Schafe vor den Fliegen schützen und somit gleichzeitig die Verluste für den Farmer verringern? Ein gewisser Herr Mules, seines Zeichens Schafzüchter, hatte da 1929 (oder 1931, ich habe verschiedene Angaben gefunden) eine Idee. Er entwickelte die nach ihm benannte Methode, bei der dem Schaf Hautfalten in After- und Genitalbereich chirurgisch entfernt werden. Ziel der Operation ist eine Vernarbung des Gewebes, damit dort keine Wolle mehr wächst. Dadurch bieten die behandelten Tiere den Fliegen keine attraktive Brutstätte mehr und werden dementsprechend nicht von Flystrike heimgesucht.

Das Problem ist: Es wurden keine Betäubungs- und Schmerzmittel während und nach dieser Prozedur eingesetzt. Auch heute noch setzen nicht alle Farmer Schmerzmittel ein.

Auswirkungen des Mulesing auf die Tiere

Die Tiere zeigen nach dem Mulesing für 24- 48h eine eindeutige Stress-Antwort und auffälliges Verhalten: sie stehen anders, legen sich kaum hin, fressen wenig, spielen nicht und zeigen wenig soziale Interaktion. Außerdem zeigen sie starke Furcht vor der Person, die das Mulesing an ihnen durchgeführt hat, und zwar noch Wochen später. Auch die Gewichtszunahme (ein wirtschaftlich wichtiger Indikator für das Wohlbefinden des Schafs) kann bis zu 14 Tage niedriger ausfallen als üblich.

Wenn Wissenschaftler Stresslevel messen wollen, messen sie meist Cortisol-Level im Blut (Cortisol ist ein Stress-Hormon). Aber kann man so das Ausmaß des Leids eines Tieres in Zahlen ausdrücken? Das ist sicherlich wissenschaftlich fundiert – aber ich persönlich kann nicht sagen, ob ein Tier mit einem geringfügig niedrigeren Cortisol-Wert nun auch weniger gelitten hat. Angst oder Schmerzen in Zahlen auszudrücken ist für mich (und das ist meine persönliche Auffassung) immer ein Graubereich.

Aufgrund der Grausamkeit der Prozedur waren viele Schafhalter auch nicht bereit, sie selber durchzuführen, und so wurden Mulesing-Dienstleister etabliert. Auf diese Weise blieben die Schafe zutraulich zu ihren Haltern, waren aber dennoch durch das Mulesing vor Flystrike geschützt. Einige Beiträge, die ich im Netz gefunden habe, berichten davon, dass Mulesing eigentlich von Fachleuten durchgeführt werden muss. Das würde aber oft nicht gemacht, oft würde auch nicht mit den richtigen Werkzeugen gearbeitet, sodass die Tiere auf diese Weise noch einmal extra leiden. Woher diese Information kommt, kann ich nicht sagen, aus den Fachartikeln ist eine solche Praxis nicht ersichtlich.

„Behandelt“ werden mittlerweile Lämmer von 8 bis 12 Wochen, mit der Begründung, der zu entfernende Hautbereich sei kleiner als bei einem erwachsenen Tier. Die Verwendung von Schmerzmitteln ist in den Australischen Standards zum Tierwohl für Schafe nur für Tiere im Alter zwischen 6 und 12 Monaten vorgeschrieben (der link führt zu der Seite, auf der der Standard heruntergeladen werden kann). Übrigens beschränkt sich die Anwendung des Mulesing nicht nur auf Merinoschafe: auch Corriedales und Kreuzungen daraus wurden bzw. werden der Prozedur unterzogen.

Ist Mulesing denn wirksam?

Ja, Mulesing ist ein wirksamer Schutz vor Flystrike. Die Angaben in der Literatur liegendurchaus weit auseinander, je nachdem, wie die Untersuchung designt war und was womit verglichen wurde (gemulesed / nicht gemulesed und faltig oder gemulesed / nicht gemulesed und unbewollt, Frühling vs. Herbst etc.). Wer gerne Zahlen mag, schaut in den Artikel von Rothwell et al.

Aber: Mulesing senkt nur die Wahrscheinlichkeit für tail strike, also den Befall der Urogenitalregion. Body strike (d. h. Achselregionen o. ä.) ist bei entsprechenden klimatischen Bedingungen weiterhin möglich. Der größte Vorteil liegt offenbar darin, dass man es nur ein Mal durchführen muss und das Schaf dann sein ganzes Leben vor tail strike geschützt ist.

Argumente für den Einsatz von Mulesing

Beim Mulesing zeigen die Tiere für 24 – 48 h eine messbare Stress-Antwort (Lee und Fisher 2007). Die Stress-Antwort bei Flystrike ist offenbar vergleichbar hoch – und sie hält so lange an, bis der Flystrike behandelt wird oder das Schaf stirbt. Das kann durchaus länger dauern als die 24 – 48 h beim Mulesing.

Schafe, die einen Flystrike überlebt haben, haben meist minderwertige Wolle und sind weniger fruchtbar. Nach Berechnungen einer Kosten-Nutzen-Analyse, die im Jahr 2001 an der Universität Melbourne durchgeführt wurde, beträgt der wirtschaftliche Nutzen des Mulesing pro Schaf im Jahr durchschnittlich $1.84 bei einer Herdengröße zwischen 3700 und 7500 Schafen. Der Nutzen von Mulesing, so wird dort auch argumentiert, erhöht sich über die Lebenszeit eines Schafes – wohingegen bei alternativen Methoden zur Verhinderung des Flystrike jedes Jahr aufs Neue investiert werden muss.

Aus der Sicht eines Schafhalters hat Mulesing vor allem vor dem Hintergrund der sehr großen Herden eine Reihe von Vorteilen (nach James 2006)

  1. Schutz vor Flystrike (tail strike) mit geringstmöglichem Aufwand für den Schafhalter.
  2. Weniger verfärbte (durch Urin etc.) und verkotete Wolle und damit höherer Reinertrag
  3. Weniger crutching erforderlich (das ist das Ausscheren der Wolle im Afterbereich außerhalb der regulären Schur zur Wollernte)
  4. Leichteres Scheren
  5. Weniger Arbeitsaufwand für die Inspektion der Herden und das Behandeln befallener Tiere
  6. Weniger (giftige) chemische Rückstände in der Wolle (weil weniger Ektoparasitenmittel verabreicht werden müssen)
  7. Abstimmen des Scherzeitpunktes mit der Wollqualität (und nicht nur zur Schadensbegrenzung wegen der Fliegen)

Die National Farmers Federation in Australien argumentiert, dass mulesing der effektivste und praktischste Weg ist, um Flystrike zu verhindern. Ihren Berechnungen zufolge würden sonst 3 Mio. Schafe jedes Jahr daran kläglich verenden.

Wer hier noch ein kleines bißchen tiefer gehen möchte, kann sich auf dem Blog „Mulesing & Welfare“ umschauen. Dort wird das Thema sehr sachlich, ebenfalls ohne Bilder und leicht verständlich (auf Englisch) aufbereitet. Über den Autor steht dort allerdings nur, dass er ein französischer Master-Student im Animal Welfare Program der Uni in Vancouver (Kanada) ist. Ein Impressum ist nicht zu finden, ich kann also die Vertrauenswürdigkeit nicht einschätzen. Die Art der Darstellung des Themas erscheint mir jedoch fundiert und vertrauenswürdig.

Mulesing war seit seiner Einführung umstritten

Seit das Verfahren in Australien eingeführt wurde, wurde es auch von vielen Farmern als grausam abgelehnt. Alternative Verfahren wurden gesucht und gefunden, aber keines schien so erfolgreich Flystrike zu verhindern wie das Mulesing (dazu weiter unten mehr).

Am Ende setzte sich Mulesing aber trotz der Grausamkeit durch. Das lag zum einen wohl an der Effizienz, mit der Flystrike verhindert werden kann, zum anderen wohl aber auch an einer ordentlichen Portion Lobbyarbeit.

Mein persönlicher Eindruck ist hier (und ich kann mich hier durchaus irren): Durch das Etablieren der Dienstleister hatten die Schafhalter einen Schritt mehr Abstand zur Grausamkeit, und die Einführung fiel ihnen vielleicht einen Tacken leichter. Wenn ich meinen Tieren nicht selbst wehtun muss, sondern es andere für mich tun, ist mir das Leid nicht ganz so nah. Zudem: wenn ich nicht 100 oder 500 Tiere versorgen muss, sondern 6000, dann bewegen sich auch handling und Logistik in einem ganz anderen Rahmen und bilden eine ganz andere Entscheidungsgrundlage.

Alternativen: Pest oder Cholera oder ganz viel Arbeit

Was sind denn nun die Alternativen? Die Schafe nicht dem Mulesing unterziehen, dafür aber riskieren, dass sie elendiglich an Flystrike zugrunde gehen? Es erscheint mir wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Praxis ist entsetzlich, das steht außer Frage. Aber kein Mulesing durchführen und die Schafe verenden zu lassen erscheint mir auch nicht die richtige Lösung.

Über die Jahre, ich sagte es schon, gab es viele Ansätze für alternative Verfahren. Nicht alle davon waren weniger schmerzhaft, und keines war so überzeugend, dass es wirklich Fuß fassen konnte. Im Folgenden gebe ich eine Übersicht dazu, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Man kann die Verfahren grob in zwei Kategorien unterteilen: Verfahren, die Haut entfernen und Verfahren, die keine Haut entfernen.

Entfernung der Haut durch andere Verfahren

Verwendung von Clips

Ähnlich wie bei der Gummiring-Methode, mit der hierzulande die Schwänze kupiert (gekürzt) werden, setzt man spezielle Clips ein, die die Hautfalten abklemmen. Dadurch wird die Durchblutung verhindert, die Haut stirbt ab und vernarbt. Auch diese Methode ist wohl schmerzhaft. Zieh Dir mal einen Gummi oder eine Schnur eng um einen Finger für ein paar Minuten und probier es aus.

Chemisches Mulesing

Im Jahre 1938 meldete ein Tierarzt namens Lewis Manchester eine Methode zur Prävention von Flystrike bei Schafen zum Patent an (Manchester Verfahren). Dabei wird derselbe Hautbereich wie beim Mulesing mit einer stark ätzenden Flüssigkeit (z. B. Kalilauge) betupft, und zwar so lange, bis die Wolle anfängt sich aufzulösen. Wer schon einmal die Warnhinweise auf einer Flasche Kalilauge gesehen hat, wird ahnen können, dass diese gezielte Verätzung höllisch weh tun muss. Der Heilungsprozess kann sich bis zu 11 Wochen hinziehen – das sind fast 3 Monate. Zum Vergleich: Die Wunde nach dem Mulesing ist meist nach ca. 5 Wochen abgeheilt.

Durch die verlängerte Wundheilung waren die Schafe auch noch länger anfällig für Flystrike. In der Literatur wird berichtet, dass die Personen, die die Tiere so behandelten, diese Methode grausam fanden.

Neben Kalilauge wurde auch mit Quaternären Ammoniumverbindungen sowie Phenol und anderen Proteine denaturierenden Substanzen experimentiert. Diese Substanzen mussten allerdings in Dosen verwendet werden, die teilweise für die Tiere tödlich und auch für die Operatoren nicht ungefährlich waren (Aufnahme über die Haut in den Körper). Es wurden zwar Applikatoren für diese Methode entwickelt und patentiert, aber so richtig fassten auch all diese Varianten nicht Fuß. Offenbar waren sie arbeitsintensiver und auch weniger effektiv als das Mulesing.

Kältebehandlung

Das Entfernen von Hautbereichen durch Erfrierungen wurde ebenfalls erprobt. Dafür wurden zum Beispiel Brandeisen verwendet, die in einer Mischung aus Trockeneis und Methanol gekühlt waren (bis -70 °C). Alternativ wurde die Haut mit Flüssigstickstoff (-196 °C) oder cryogenen Gasen behandelt, allerdings führte das nicht zu einer dauerhaften Verhinderung des Wollwachstums. Alles, was oberhalb von -20 °C blieb, führt zu unvollständiger Nekrose des Gewebes. Die Haut konnte sich somit wieder regenerieren (was an sich schon ein kleines Wunder ist) und somit irgendwann auch wieder Wolle produzieren. Eine solche Behandlung hätte also in regelmäßigen Abständen wiederholt werden müssen (während bei Mulesing nur ein Eingriff erforderlich ist). Und da sind wir wieder bei den enormen Herdengrößen und den damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten.

Ionisierende Strahlung

Zwischen 1987 und 1991 wurden über 5 Mio. Dollar ausgegeben für Versuche mit ionisierender Strahlung an über 1000 Schafen. Durch die Strahlung konnte zwar das Wollwachstum zunächst unterbrochen werden, allerdings konnte sich die Haut auch hier nach einer Weile wieder erholen und es kam erneut zu Wollwachstum (und somit der Gefahr des Flystrike). Wenn die Strahlungsdosis erhöht wurde, um die Regenerationsfähigkeit der Haut komplett zu zerstören, kam es zu verstärkter Vernarbung. Die Narben und der Heilungsprozess waren offenbar auch schmerzhaft für die Tiere, und während der Heilung waren sie aufgrund der gebildeten nässenden Wunde wiederum anfälliger für Flystrike.

Photodynamische Therapie

Beim Menschen wird photodynamische Therapie beispielsweise bei der Behandlung von Hautkrebs eingesetzt. Betreffende Hautpartien werden mit einer speziellen Creme bestrichen, deren Wirkstoff in die Haut eindringt. Wird die Haut anschließend mit Licht einer bestimmten Wellenlänge bestrahlt, kommt es zur Freisetzung von aggressivem Sauerstoff (Sauerstoff-Radikale, sog. photodynamischer Effekt), der wiederum die behandelten Hautzellen zum Absterben bringt.

Bei den Schafen wird das ähnlich gemacht. Die gewünschte Region (d. h. der Po) wird geschoren, mit einer Substanz bestrichen (5-Amino-Levulinsäure, wen es interessiert) und nach 3- 10 Stunden mit sehr hellem rot-gelbem Licht (600 – 700 nm, d. h. im sichtbaren Spektrum) bestrahlt. Hierbei wird gezielt die Haarwurzel zerstört. In einem Feldversuch 1999 – 2001 konnte gezeigt werden, dass diese Methode fast genauso gut vor Flystrike geschützt hat wie das Mulesing. Ob dieses Verfahren für die Tiere schmerzhaft war, ging leider nicht aus dem Artikel hervor. Trotz dieser verheißungsvollen Ergebnisse hat diese Methode bis heute nicht Fuß gefasst.

Enzymatische Behandlung der Haut

Ein sehr interessanter Ansatz ist die Behandlung der Haut mit natürlich vorkommenden Enzymen*. Forscher hatten herausgefunden, dass sie mit bestimmten Enzymen (Collagenase, ein Collagen-abbauendes Enzym, und sog. Matrixmetalloproteinasen) ganze Follikel aus der Haut isolieren konnten. Die so isolierten Follikel waren nicht mehr lebensfähig – also perfekt, wenn man das Wollwachstum verhindern will.

Was hat man nun gemacht? Man hat in den betroffenen Bereich eine Collagenase-haltige Lösung in die Haut injiziert. Die daraufhin eintretende Reaktion war anscheinend vergleichbar mit dem, was auch nach dem Mulesing-Eingriff mit der Haut passiert – aber ohne die Schmerzen. Offenbar setzte aber einige Wochen nach der Behanldung wieder etwas Wollwachstum ein, sodass man von dieser Methode auch nichts wieder gehört hat.

*natürlich vorkommend meint in diesem Fall vermutlich: Collagenasen und Matrixmetalloproteinasen kommen natürlicherweise in den Geweben vor. Für die Injektionen wurden aber sicher biotechnologisch hergestellte Enzyme verwendet. Wenn man die natürlichen Enzyme verwenden will, muss man sie aus irgendwas isolieren (so wie früher Insulin aus Schweinepankreas). Dafür bräuchte man dann wieder ganz schön viel Schafhaut und hätte eine Menge Arbeit. Biotechnologisch ist verlässlicher und skalierbarer.

Alternativen ohne Entfernung oder Behandlung der Haut

Scheren und Beobachten

Durch häufigeres Scheren des Hinterbereiches der Schafe wird verkotete und urin-verfärbte Wolle vom Schaf entfernt und so die Attraktivität für die Fliegen herabgesetzt.
Die praktische Umsetzung dürfte allerdings viel Arbeit bedeuten (und wieder: Stichwort Herdengröße), und häufigeres Scheren alleine reicht nicht aus, um Flystrike in den Griff zu bekommen. Zusätzlich müsste der Schafhalter das Wetter im Auge haben (wegen der Feuchtigkeit) sowie den Jahreszyklus und das Vorkommen der Fliegen in seinem Weidegebiet. Bei verstärktem Fliegenaufkommen muss er seine Tiere häufiger überprüfen, um einen Befall rechtzeitig erkennen und versorgen zu können. Die Verwendung von speziellen Fliegenfallen kann die Anzahl der Fliegen im Weidegebiet drastisch reduzieren.

Verwendung von Insektiziden

Insektizide werden häufig eingesetzt, um Schafe vor Ektoparasitenbefall zu schützen. Dafür werden die Schafe einer Tauchprozedur unterzogen (engl dipping), bei der das komplette Schaf für eine Weile untergetaucht wird (auch der Kopf). Es gab bei Nordwolle vor einer Weile mal ein Video dazu (Achtung, die Bilder sind echt nicht schön! Marco reagiert auf Sheep Dipping).

Das Ding ist folgendes: Insektizide sind halt giftig. Es sind z. B. Organophosphate oder organische Fluorverbindungen, die, wenn sie aus dem Vlies ausgewaschen sind, zu weiteren giftigen Verbindungen abgebaut werden können und in den Boden gespült werden.

Züchterische Selektion

Die Züchtung von Schafen, die keine Falten haben und idealerweise am Hinterteil auch nicht bewollt sind, wäre natürlich die beste Lösung. Es gibt einige Schafrassen, die diese Ausstattung schon haben (z. B. Wiltshire Horn, Border Leicester). Allerdings können prinzipiell auch andere Körperteile als die After-Region von Flystrike betroffen sein, sodass selbst faltenfreie Schafe ohne Bewollung am Hinterteil immer noch nicht komplett vor Flystrike geschützt wären.

Neueste Forschungen untersuchen, wie man durch genetische Selektion von Schafen mit bestimmten immunologischen Eigenschaften die Anfälligkeit für Flystrike reduzieren kann. Diese Anfälligkeit kann sich nämlich auch im Immunsystem zeigen – manche Schafe haben bei Madenbefall eine Immunreaktion, die den Befall eindämmen kann, und manche eben nicht. Die züchterische Selektion robusterer Tiere ist allerdings ein längerer Prozess.

Impfung

Eine Impfung mit Larven-Antigenen kann offenbar den Fliegenbefall sowie die Größe der entstehenden Wunden reduzieren. Wie der Mechanismus genau funktioniert, weiß man noch nicht. In die Entwicklung von Impfstoffen hatte man große Hoffnungen gesetzt, aber offenbar ist der große Durchbruch bis heute nicht gelungen.

Der heutige Stand der Dinge

Fakt ist: Mulesing ist in Australien Regeln unterworfen, die sowohl Anforderungen an die Qualifikation der durchführenden Personen stellen als auch die Anwendung von Schmerzmitteln vorschreiben – wenn auch nur in einem bestimmten Altersfenster (wie oben schon einmal beschrieben).

Auf öffentlichen Druck sollte das Verfahren in Australien ab 2010 verboten werden. Jedoch wurde diese Entscheidung Ende 2009 wieder zurückgenommen, weil die heilbringende Alternative (nämlich ein Impfstoff, auf den man gesetzt hatte), sich nicht materialisierte. 

In Neuseeland ist die Praxis hingegen seit dem 01. Oktober 2018 verboten. Dort hat man durch eine Kombination aus verschiedenen Maßnahmen (hauptsächlich Züchtung) geschafft, den Flystrike anderweitig in Schach zu halten.

In Australien hofft man heute immer noch auf das Flystrike-Vakzin und überlegt eine neue Deadline zur Abschaffung des Mulesing in 2030. Ob diese Deadline wirklich offiziell wird, weiß man nicht, denn es ist längst nicht sicher, ob bis dahin ein verlässlich wirksames Vakzin verfügbar sein wird.

Nun liegt es an den Schafhaltern, sich nach Alternativen umzusehen und sie einzusetzen, um ihre riesigen Herden vor Flystrike zu schützen und gleichzeitig kostendeckend zu arbeiten.

Die Tierschutzvereinigung Vier Pfoten zitiert einen von ihnen beauftragten Bericht, der die Umfragedaten von 97 Schafhaltern aus Australien auswertet, die z. B. mit genetischer Selektion eine Abkehr vom Mulesing geschafft haben
(der Bericht „Towards a non-mulesed future“ und aufbereitet als Blogartikel).

Diesen Artikel habe ich nur unter Vorbehalt gelesen, und ich zitiere ihn hier nur um zu zeigen, dass es durchaus züchterische Bemühungen gibt, in Zukunft mulesingfrei zu arbeiten. Meine Bedenken sind folgende:

  • Punkt 1: Er ist von Vier Pfoten in Auftrag gegeben worden. Wie unabhängig die mit der Umfrage und dem Bericht beauftragte Organisation ist, kann ich nicht beurteilen. Der Bericht zeigt nur Ergebnisse, die mit den Werten und Zielen von Vier Pfoten übereinstimmen und keine Kritikpunkte.
  • Punkt 2: Der Bericht enthält keine Rohdaten, und auch in das Fragendesign oder die Rücklaufquote erhält man keinen Einblick. Wie aussagekräftig oder repräsentativ er ist, geht aus dem Bericht nicht hervor. Schlecht designte Fragen und eine nicht repräsentative Rücklaufquote verfälschen das Bild.
  • Punkt 3: Mich macht etwas stutzig, dass innerhalb von 5 Jahren Zuchterfolge erzielt worden sein sollen. Normalerweise ist Zuchtarbeit eine Lebensaufgabe für einen Schäfer. In 5 Jahren sind gerade einmal 5 Generationen Schafe umfasst, das ist züchterisch sehr wenig. Bei der Zucht gibt es keine schnellen Lösungen und auch keine Abkürzungen.

Entscheidet selbst, ob ihr diesem Bericht Vertrauen schenkt oder nicht. Ich bin skeptisch. Wenn das so einfach und auch noch profitabel wäre, warum machen es dann nicht längst alle?

Mulesing – geht das auch in Deutschland?

Zuallererst: In Deutschland verbietet das Tierschutzgesetz, mit Schmerzen verbundene Eingriffe an Wirbeltieren ohne Betäubung durchzuführen (§ 5). Nach der Nutztierhaltungsverordnung muss jedes Tier jeden Tag in Augenschein genommen werden, und es darf ihm kein Leid zugefügt werden. Mulesing ist also nicht explizit verboten, aber die geltenden Vorschriften machen es de facto aus meiner Sicht unmöglich. (Ein explizites Verbot von Mulesing, so wie es in verschiedenen Blogartikeln behauptet wird, habe ich nicht gefunden.)

Bei in Deutschland gehaltenen Merinoschafen handelt es sich zudem meistens um Merinolandschafe oder Merinofleischschafe. Diese Merinoschafe unterscheiden sich genetisch (und auch äußerlich, also phänotypisch) von den Australischen Merinos. Deutsche Merinos haben weniger Falten und sind dementsprechend weniger anfällig für Flystrike, sodass Mulesing bei ihnen auch nicht erforderlich ist.

Mulesingfreie Wolle – gibt es eine Zertifizierung?

Nach diesem Artikel von Vier Pfoten sind schon über 3000 Australische Schafhalter als Mulesing-frei zertifiziert. Wer dieses Zertifikat allerdings ausstellt und was die Zertifizierung beinhaltet, konnte ich leider nicht herausfinden. Möglicherweise war auch einfach nur die Meldung an das National Wool Declaration-System damit gemeint (offenbar wird hier erfasst, welchen Mulesing-Status eine Wolle hat).

Bei der Recherche für Zertifizierungen ist mir der Responsible Wool Standard begegnet, der hohe Standards für die gesamte Lieferkette festlegt (und hier noch ein Artikel auf Deutsch).

Mein Fazit: Es ist nicht schwarz-weiß. Und ich habe noch Fragen.

Schafhaltung in Australien funktioniert anders als hier in Deutschland. Während in Deutschland die durchschnittliche Herde ca. 160 Tiere umfasst (Stand 2017) und der Tierschutz vorsieht, dass die Tiere täglich überprüft werden müssen, ist das in Australien bei den dortigen Herdengrößen (zwischen 2000 und 6000 Tieren, je nach Region) teilweise gar nicht möglich. Oft sind die Tiere sich selbst überlassen und werden nur 1x im Jahr zur Schur mit Hubschraubern und Pferden zusammengetrieben (so wurde es mir berichtet von einer Spinn-Kollegin, die mal einige Jahre in Australien gewohnt hat). Das Schlüsselwort ist hier Massentierhaltung, und zwar in Kombination mit Zucht auf maximalen Wollertrag pro Tier. Der Begriff „Überzüchtung“ springt mir auch in den Kopf.

Woher kommen diese riesigen Herdengrößen? Ich vermute: Es ist ein Zusammenspiel zwischen riesigem Wollbedarf und der Entfernung des Menschen vom Schaf als Lebewesen. Wie auch Tiere in der Massentierhaltung für die Lebensmittelproduktion werden Schafe als eine Art Commodity behandelt. Etwas, was man optimieren kann. Maximaler Ertrag bei minimaler Weidefläche. Wissenschaftlich in Zahlen gepresst. Wenn ich den Wollertrag pro Tier um X Gramm erhöhen kann, dann kann das Endprodukt um Y Dollar günstiger verkauft werden.

Wenn ich eine Herde mit 6000 Tieren habe und 3 Mitarbeiter, dann ist einfach mal klar, dass ich nicht jedes Schaf jeden Tag ansehen kann. Dann bleibt mir als Schafhalter, wenn ich mit den Tieren, die ich nun mal habe, wirtschaftlich arbeiten will, vielleicht nichts anderes übrig als „Augen zu und durch“. Einmal Mulesing und das Schaf ist ein Leben lang geschützt – zumindest vor tail strike. Das ist doch wirtschaftlicher und weniger aufwändig, als ständig Popos zu scheren und Schafe zu dippen. Zumal sie ja definitiv auch leiden, wenn sie befallen werden.

Die Triebkraft dahinter, der Maximierungsdruck, kommt vielleicht noch nicht mal von den Farmern und Schafhaltern selbst. Ich möchte nicht jedem Farmer Gier unterstellen, denn ich glaube nicht, dass er (oder sie) mit Wolle so richtig reich werden kann. Vielleicht entspringt dieser Druck eher aus der in der Verarbeitungskette dahinterliegenden Industrie. Er entspringt vielleicht aus der Tatsache, dass die Menschen heute weit entfernt sind von den Prozessen, die ihnen Kleidung und Essen bringen. Dass fast niemand mehr den gesamten Herstellungsprozess von vorn bis hinten selbst durchführt, sondern alles zerstückelt und über den Globus verteilt ist.

Wäre Mulesing denn akzeptabel, wenn es nicht nach dem Gießkannenprinzip bei jedem Schaf prophylaktisch durchgeführt würde, sondern unter Verwendung von ausreichenden (!) Mengen Schmerzmitteln und nur dann, wenn die Inzidenz für Flystrike andernfalls nachweislich sehr hoch ist? Wo ist die Grenze?

Selbst jetzt, obwohl ich mich lange und intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt habe, kann ich immer noch nicht einschätzen, ob das durch Flystrike verursachte Tierleid nicht doch größer wird, wenn Mulesing sofort gestoppt wird. Das Stoppen des Mulesing alleine reicht vielleicht gar nicht aus, wenn die Herden gleich groß bleiben.

Mulesing hängt offenbar auch eng mit der Herdengröße zusammen. Müsste man dann nicht die Herdengrößen verringern? Geht das überhaupt? Sind nur so große Herden wirklich wirtschaftlich? Muss man sich vielleicht einfach mal von der beliebigen Skalierbarkeit landwirtschaftlicher Produkte verabschieden und akzeptieren, dass nicht immer alles jederzeit in unbegrenzer Menge verfügbar ist? Weil Wolle mehr wert ist? Auf der anderen Seite: sehr große Herden gab es auch schon, als Australien noch gar keine Kolonie war… Es ist einfach nicht schwarz weiß.

Für mich ist klar: Ich will das nicht. Ich will nichts aus Wolle anziehen und auch nicht verarbeiten, wenn ein Schaf so behandelt wurde. Wie ein Stück leblose Materie. Es erinnert mich an meinen Geschichtsunterricht, im Abitur, als wir Descartes durchgenommen haben. Erinnert ihr euch? Der Typ, der meinte, Tiere sind eher so Automaten und haben keine Seele? Und wenn man sie ohne Narkose seziert, dann sind das keine Schmerzensschreie, sondern einfach nur automatisch ablaufende Reflexe? Das hat mich schon damals gegruselt. Es nannte sich „Aufklärung“.

Und klar, ich kann mich darauf zurückziehen, dass ich sowieso keine Wolle aus Australien trage und verarbeite, sondern in letzter Zeit nur noch regionale Wolle, wo ich sogar die Schafe selbst kenne. Aber reicht das?


Quellenangaben

Hier findet ihr zum Nachlesen und Selbststudium einige Literaturangaben. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, auch nach der Veröffentlichung habe ich viele weitere Quellen gefunden. Eine gute Hilfe sind auch Google Scholar und Research Gate.

Philip Walling “Counting Sheep. A Celebration of the Pastoral Heritage of Britain” ; ISBN 978-1846685057

J Rothwell, P Hynd, A Brownlee, M Dolling, S Williams. Research into alternatives to mulesing. Australian Veterinary Journal Volume 85, No 1, January 2007

CJC Phillips. A review of mulesing and other methods to control flystrike (cutaneous myiasis) in sheep. Animal Welfare 2009, 18:113 – 121. ISSN 0962-7286

AC Kotze and PJ James. Control of sheep flystrike: what’s been tried in the past and where to from here. Australian Veterinary Journal Volume 100 No 1-2, January-February 2022

J Sneddon, B Rollin. Mulesing and Animal Ethics. J Agric Environ Ethics (2010) 23:371-386

P James. Genetic alternatives to Mulesing and tail docking in sheep: a review. Australian Journal of Experimental Agriculture 2006 (46) 1-18.

THE STRUCTURE AND DYNAMICS OF AUSTRALIA’S SHEEP POPULATION. https://www.agriculture.gov.au/sites/default/files/sitecollectiondocuments/animal-plant/animal-health/livestock-movement/sheep-movement-ead.pdf

The Western Australian Sheep Industry
https://www.agric.wa.gov.au/sites/gateway/files/WA%20Sheep%20Industry%20booklet%202017.pdf

Industry projections 2021 (Meat & Livestock Australia)
https://www.mla.com.au/globalassets/mla-corporate/prices–markets/documents/trends–analysis/sheep-projections/mla-june-update-sheep-industry-projections-2021.pdf?utm_campaign=197809_Sheep%20flock%20to%20increase%20to%20over%2068%20million&utm_medium=email&utm_source=Meat%20%26%20Livestock%20Australia&dm_i=4PKB,48MP,8YMQ6,ET3H,1

Changes in the demographics of the NSW sheep flock
https://www.dpi.nsw.gov.au/__data/assets/pdf_file/0011/543548/Paper-2-demographics-with-ageing-appendix.pdf

Edwards L. “Lamb mulesing: Impact on welfare and alternatives” February 2012CAB Reviews Perspectives in Agriculture Veterinary Science Nutrition and Natural Resources 7(061) DOI:10.1079/PAVSNNR20127061

C Lee, AD Fisher Welfare consequences of mulesing of sheep (Abstract) First published: 13 March 2007

Schaftag 2022 auf dem Tempelhofer Feld

Es ist Sonntag, 21. August, 14 Uhr, und es ist echt heiß. Viel heißer noch als heute früh – die Sonne sticht und die Wolken sehen aus, als würden sie ein Gewitter mitbringen. Schatten ist Mangelware auf dem Tempelhofer Feld, aber ich bleibe trotzdem, denn heute ist Schaftag!

Es gibt in diesem Beitrag leider keine richtig schönen Fotos, irgendwie hatte ich an diesem Tag kein gutes Auge dafür. Nächstes Mal gibt es wieder bessere Bilder!

Ausblick Menschenmenge Tempelhofer Feld Schaftag 2022
Ganz schön was los auf dem Tempelhofer Feld.

Schafe auf dem Tempelhofer Feld

Wusstest Du, dass es auf dem Tempelhofer Feld Schafe gibt? Seit 2019 werden auf dem Tempelhofer Feld Skudden eingesetzt, um das Gelände extensiv zu beweiden und so die Artenvielfalt zu erhalten. Ich hatte irgendwann schon einmal davon gehört, aber da dieser Teil Berlins mit den Öffis fast eine Stunde von meinem Kiez entfernt liegt, komme ich da nur sehr selten vorbei.

Früher wurden hier zweimal im Jahr die Grünflächen radikal abgemäht. Durch diesen Eingriff verloren viele Arten von jetzt auf gleich ihre Rückzugsmöglichkeiten. Heute knabbern hier ungefähr hundert Skudden der Grün Berlin GmbH, betreut von Schäfer Frank Wasem, nach und nach langsam die Wiese klein. So werden diese wertvollen Rückzugsräume für viele Tiere erhalten, weil eben nicht auf einmal die ganze Vegetation weg ist. Das Projekt läuft noch bis 2024 und wird wissenschaftlich begleitet. Wer möchte, kann sich dazu vor Ort informieren (Informationen findet ihr hier auf der Seite der Grün Berlin GmbH).

Wollwasch-Strasse
Eine Wollwaschstraße war aufgebaut, aber leider nicht in Aktion zu beobachten.

Ich vergesse immer, wie weitläufig das Gelände ist, und so bin ich schon etwas fußlahm, als ich auf dem Bereich von Haus 104 ankomme. Es ist ordentlich was los – zwar verläuft sich alles ein bisschen auf dem großen Areal, aber an den Ständen ist man dicht gedrängt. Eine Weberin sitzt an einem Webstuhl auf einem Podest und webt, davor ist ein Tisch, an dem sich Kinder mit kleinen Webrahmen am Weben probieren. Daneben ist eine Wollwaschstrasse aufgebaut, eine ganze Reihe Plastikwannen mit Wasser und Spüli, und davor liegt Rohwolle.

Aktionstisch Naturpigmente Wolkenschafe
Hier konnte man Wolkenschafe basteln.
Wolle färben mit Naturfarben
Es gab auch einen Stand zum Wolle färben mit Naturfarben. Ich weiß leider nicht, ob es nur demonstriert wurde oder ob man auch selber ausprobieren konnte – als ich vorbeiging, war gerade niemand da.

Der Stand, an dem Kinder Filzschnüre herstellen können, ist ebenfalls dicht bedrängt und man muss schon etwas warten, bis man drankommt. Es gibt ein Kinderquiz, Anschauungsmaterial zu Wollen verschiedener Ziegen- und Schafrassen und auch einen Stand mit Wollprodukten der Firma Betten Rieger. Man kann sich zu natürlichen Pigmenten informieren – die Künstlerin Kristin Hensel (drawn with nature) ist auch da (und sehr, sehr beschäftigt). Kinder turnen auf riesigen Strohballen herum, die man sonst nur auf den abgeernteten Feldern liegen sieht.

Box mit Wolle-Fühlproben von verschiedenen Schafrassen
Sehr interessant und toll gemacht: Fühlproben der Wolle verschiedenster Schaf- und Ziegenrassen.

Weiter hinten fahren Kremserkutschen, und die Schafe sind so weit weg, dass es mir heute zu heiß ist, bis dorthin zu laufen. Ich hab auch nicht genug Wasser dabei. (Hinterher habe ich gelernt, dass die Kremserkutschen direkt zu den Schafen fahren – nächstes Mal bin ich schlauer!).

Mein Highlight: die Gesprächsrunde mit Wollexperten

Die Veranstaltung, deretwegen ich eigentlich hier bin, ist die Gesprächsrunde mit Wollexperten aus unterschiedlichen Bereichen. Marco von Nordwolle soll dabei sein, der Schäfer, der für die Skudden hier verantwortlich ist, und auch Frau Rieger von der Firma Betten Rieger aus Görlitz. Leider verspätet sich alles, Windböen pusten ganze Pavillons weg und die Plane von einem Catering-Stand hat es auch entwurzelt. Wahrscheinlich muss da im Hintergrund noch ein bisschen organisiert werden. Kurz nach 15 Uhr ist es endlich so weit: Die Gesprächsrunde geht los und die einzelnen Teilnehmer werden vorgestellt.

Marco Scheel von Nordwolle muss man unter Woll-Verrückten eigentlich gar nicht mehr vorstellen, aber sehr interessant zu lernen: Mittlerweile verarbeitet er die Wolle von 120 000 Schafen im Jahr. Bei geschätzten 3–4 kg Wolle pro Schaf sind das 360 – 480 Tonnen im Jahr. Das ist schon eine Nummer.

Schäfer Christoph Behling ist Skuddenzüchter und hat den Beruf noch zu DDR-Zeiten gelernt. Damals wurde noch auf Wollqualität gezüchtet und Wolle war eine ertragreiche Einnahmequelle für Schäfer. Er achtet (von Berufs wegen) sehr auf die Qualität seiner Wolle, lässt sie zu verschiedenen Produkten verarbeiten und hat selbst keine Probleme, Abnehmer dafür zu finden. Aber er sagt auch: Die meisten anderen Schäfer können das nicht. In der Regel lohnt sich Wollproduktion für Schäfer nur, wenn sie an ein Projekt gekoppelt ist, für das die Wolle produziert wird. Ohne Projekte funktionert es seiner Erfahrung nach nicht.

Schäfer Frank Wasem ist in seiner Berufskleidung da, er ist für die Schafe auf dem Tempelhofer Feld verantwortlich. Er erzählt vom Alltag und von Problemen.

Besonders interessant finde ich die Beiträge von der Künstlerin und Prof. für Architekturbezogene Kunst Folke Köbberling (Achtung: Seite hat kein SSL-Zertifikat). Sie kam mit dem Rohstoff Wolle über einen Schäfer in Berührung, der ihr einen Sack Wolle geschenkt hat. Seitdem setzt sie sich in ihren künstlerischen Projekten damit auseinander, wie man diesen wertvollen Rohstoff bestmöglich einsetzen kann. In ihrem Projekt beim Museum Folkwang in der „grünen mitte essen“ verarbeitete sie die Wolle tonnenweise – als Isolierung, als Schallschutz, unter Reetdächern.

Hand auf einem Skudde-Vlies
Skudde-Vliese zum Anfassen – natürlich musste ich da mal reingreifen!

Es ergibt sich eine sehr angeregte (aber leider viel zu kurze) Diskussion zu vielen wichtigen Punkten im Umgang mit Wolle, die ich euch aus der Erinnerung noch einmal zusammenfasse.

Wollqualität

Die zentrale Frage ist: Was ist gute Qualität? Dabei geht es sowohl um die Feinheit der Wolle als auch um die Sauberkeit. An der Feinheit kann man nur bedingt etwas ändern, vielmehr geht es darum, für die Wolle, die wir haben, den richtigen Verwendungszweck zu finden, findet Marco Scheel. Die Sauberkeit, also wie verkotet, eingestreut oder verklettet die Wolle ist, wird offenbar unterschiedlich gehandhabt. Während Herr Behling berichtet, dass Einstreu und Kot die Qualität der Wolle mindert (und das ist ja auch meine Erfahrung, die meisten Verarbeiter nehmen Wolle mit zu viel Dreck / Einstreu gar nicht erst an), sagt Marco von Nordwolle, dass das so nicht stimmt. Er nimmt auch verstrohte und verkotete Wolle, das können große Wäschereien offenbar sehr gut herauswaschen, und was dann noch in den Fasern ist, wird so stark zerkleinert, dass man es kaum noch sieht. Problematisch würde es erst, wenn man die Wolle dann noch färben wollte, denn Zellulosepartikel (also Heu und Stroh) nehmen Farbe unterschiedlich an und beeinträchtigen so das Färbeergebnis.

Wollwäschereien in Deutschland

Durch sehr hohe Anforderungen an das Abwasser ist es in Deutschland offenbar quasi nicht möglich, eine rentable Wollwäscherei zu betreiben. Daher wird es wohl auch in Zukunft nicht möglich sein, Wolle in großem Maßstab in Deutschland waschen zu lassen, man muss nach Belgien, Moldawien, Polen oder Portugal ausweichen. Offenbar hat Deutschland durch diese höheren Anforderungen einen Standortnachteil. Jetzt kann man sich natürlich fragen: Sind die Anforderungen an das Abwasser in Deutschland zu streng oder in den anderen Ländern zu lasch? Wie machen das Belgien oder Portugal? Ich kann das leider überhaupt nicht einschätzen. Wenn sich da jemand von euch auskennt, schreibt mir gerne oder hinterlasst einen Kommentar!

Bürokratie

Und damit waren wir auch beim Thema Bürokratie. Bürokratie stellt aus Sicht des Schäfers Frank Wasem eine wesentliche Hürde für die Schafhaltung dar. Das reicht von der Verpflichtung zum Anbringen von 2 Ohrmarken pro Tier (eine Anforderung, die es für Schweine z. B. nicht gibt, obwohl viel mehr Schweine als Schafe in Deutschland gehalten werden) bis hin zu der Einstufung von Rohwolle als tierisches Abfallprodukt der Gefahrenkategorie 3, die es z. B. verhindert, dass Wolle verschiedener Schäfer einfach so irgendwo gesammelt werden kann.
(Man kann es machen, aber man braucht dann offenbar eine Genehmigung bzw. Zertifizierung, und diesen Zusatzaufwand können viele Schafhalter und Schäfer einfach nicht leisten, weil es sich nicht rentiert.)

Wasserverbrauch

Marco von Nordwolle wurde gefragt, wie denn der Wasserverbrauch für eines seiner Kleidungsstücke ist – der Verbrauch ist ja bei Baumwolle bekanntermaßen gigantisch hoch. Er nannte die Zahl: 6 Liter. Das ist erstaunlich, finde ich.

Die Zukunft der Wolle

Zum Abschluss kam die Frage auf, wo denn die Teilnehmer die Zukunft der Wolle sehen. Marco Scheel ist es wichtig, dass man Verwendungsmöglichkeiten für Wolle findet, die ihren Eigenschaften entsprechen. Das muss also nicht die Weichheit sein, sondern vielleicht die Isolierfähigkeit. Die ist für die Schafe überlebenswichtig im hiesigen Klima, die haben sie über tausende Jahre verfeinert, die kann man herausarbeiten. So hat Nordwolle zusammen mit Storopack (einer Firma für Isoliermaterial, die eigentlich Styropor verwendet) eine Isolierverpackung entwickelt, in der Wolle zwischen zwei Wellpappe-Schichten eingearbeitet ist. Diese Verpackung ist komplett biologisch abbaubar und soll für den Lebensmittel- und den Pharmabereich eingesetzt werden. (Auf der Website der Firma Storopack konnte ich dazu leider nichts finden).

Für Marco Scheel liegt die Zukunft der Wolle im Hightech-Bereich, weil dort die höchste Wertschöpfung möglich ist. Für die Künstlerin Folke Köbberling und auch Schäfer Frank Wasem ist klar, dass auch die Politik gefragt ist, diverse Hürden abzubauen, damit beispielsweise Rohwolle (also ungewaschene Wolle) auch als Bau- oder Dämmstoff eingesetzt werden kann. Dafür braucht es mutige Menschen, mutige Bauherren, die sich darauf einlassen. Man darf also gespannt sein!


Der Schaftag 2022 wurde gemeinsam veranstaltet von der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher und Klimaschutz, der Grün Berlin GmbH, dem Allmende Kontor, 100 % ThF, Haus 104 und der Feldkoordination.

Alle Jahre wieder – Schafschur 2022

Sonntag früh, kurz nach 6, der Wecker klingelt. An jedem anderen Sonntag hätte ich entnervt das Kissen über den Kopf gezogen und einen Latschen nach dem lärmenden Ding geworfen, aber heute nicht. Heute ist wieder Schafschur!

Das Universum spielt mit, es ist nicht zu heiß und nicht zu kalt und vor allem: Es regnet nicht. Nasse Schafe kann man nämlich nicht scheren. Letzte Woche waren brütende 30 °C, gestern noch zogen stürmische Schauer übers Land, heute ist die Welt wieder in Ordnung.

Den Sortiertisch hab ich gestern schon ins Auto gepackt, jetzt fehlen nur noch Sonnencreme, genug Wasser, etwas zu essen und mein Morgenelixier – Kaffee – und dann gehts schon los Richtung Eberswalde.

Coburger Fuchs Kopf Nahaufnahme
Eine Coburger-Fuchs-Dame vor der Schur.

Morgens um acht in Eberswalde

Als ich um acht ankomme, ist Carina, die Schafhalterin von der Schäferei Schöne Schafe Biesenthal, schon eine ganze Weile auf den Beinen. Die Vorbereitungen gingen gestern schon los – Schafe einfangen und einpferchen, Zäune umstecken, damit alles bereit ist für den Scherer. Jetzt wird noch mal alles kontrolliert, der Ablaufplan für heute präzisiert, Helfer eingewiesen und alles aufgebaut. Heute wird nicht nur geschoren, die Mütter bekommen auch Klauenpflege (die macht der Scherer vor dem Scheren), eine Wurmkur, die Lämmer müssen entwurmt und geimpft werden, und eine Ektoparasitenbehandlung steht auch an. Außerdem wird bei jeder Mutter das Euter, Wolle und Klauen begutachtet und notiert. Und zu guter Letzt werden heute die Lämmer von den Müttern entwöhnt, denn sie sind mittlerweile groß genug. Die Bocklämmchen üben schon mal für die nächste Decksaison, und bevor sie da erfolgreich werden, müssen sie von den Mädels getrennt werden. Volles Programm also.

Lämmer und Mütter während der Schur
Mütter und Lämmer noch vereint vor der Schur. Kurz danach kamen Kinder und Damen in unterschiedliche Abteile.

Ich such mir ein Eckchen und baue meinen Tisch auf. Nach und nach kommen auch weitere Helfer dazu. Zwei Wollbegeisterte aus dem nahegelegenen Spinnkreis werden zum Schafe-Zuführen eingeteilt. Da die Schafe sich nicht von alleine brav in einer Reihe aufstellen, müssen sie mit einem Halfter eingefangen werden, damit der Scherer nahtlos weiterarbeiten kann. Er arbeitet heute in einem deutlich gemütlicheren Tempo als üblich, weil sonst die Drum-Herum-Arbeiten nicht hinterherkommen würden. Die Tierärztin ist jetzt auch da, sie hat die Medikamente zum Impfen mitgebracht und impft die Lämmer. Insgesamt sind wir sicher 12-14 Leute, und jeder hat zu tun.

graue, braune und weiße Lämmer während der Schur
Lämmergewusel – die Lämmer werden noch nicht geschoren und sind in einem separaten Pferch-Abteil untergebracht. Dort können sie ihre Mütter sehen und hören, und können gleichzeitig ihre Behandlung bekommen.

Der beste Job von allen: Wolle sortieren

Ich finde, ich hab den besten Job von allen: Wolle sortieren. Ich nehme dem Scherer das Vlies ab, bringe es zu meinem Sortiertisch und dann wird in Windeseile vorsortiert. So gut es geht, Bauch-Beine-Po rausnehmen, nach Kletten suchen und auch die entfernen, verfilzte Stellen um den Nacken herum. Noch kurz Nachschnitt rausschütteln, dann sind die 2 Minuten schon rum und das nächste Vlies steht an. Zum Glück sind wir zu dritt, alleine würde ich es wohl grade so schaffen, Kotreste zu entfernen und das jeweilige Vlies ins Big Back zu werfen. Wenn ich ein Vlies zum Handspinnen sortiere, nehme ich mir mehr Zeit und gehe wirklich handbreit für handbreit durch, aber das ist hier gar nicht möglich.

schmutzige Hand auf frisch geschorenem Coburger Fuchs Vlies
Wolle sortieren ist ein dreckiger Job. Und auch ein sehr schöner.

Wolle Sortieren ist für mich ein Fest für die Sinne. Die Vliese sind alle unterschiedlich: Rhönschafvliese sind mittelweich und einfach nur riesig, und ich frag mich immer, wie so viel Wolle auf ein einzelnes Schaf draufpasst. Mein Tisch ist für ein Rhönschafvlies definitiv zu klein. Die Vliese der Coburger Füchse hingegen sind weich, leicht und bauschig und ein regelrechter Traum. Wenn die ganzen Kletten raus sind, versteht sich. Und dann sind noch die Vliese der Wensleydales und Gotländischen Pelzschafe. Die sind klein und dafür recht schwer, und sie hängen nicht wirklich gut zusammen, ich muss gut aufpassen, dass sie auf dem Tisch nicht zu sehr zerfallen. Manche sind direkt auf dem Schaf zu wunderschönen Sitzunterlagen gefilzt … Ouessant-Vliese sind ganz klein, aber super schön, und ein dunkles mit ausgebleichten Spitzen hat mich ganz lieb angeflauscht und durfte mit mir nach Hause kommen. Ganz neu dieses Jahr sind Shetland-Vliese mit herrlichem Crimp.

Die Schafe riechen auch alle ein bisschen unterschiedlich, wie mir die anderen beiden Team-Kolleginnen beim Sortieren bestätigten. Ein bestimmtes Rauhwolliges Pommersches Landschaf hatte sogar einen speziellen mandelartigen Geruch. Abgefahren, echt abgefahren.

Und die ganze Zeit über hat man den Schaf-Soundtrack auf den Ohren. Die Schafe lassen dieses Großereignis schließlich nicht unkommentiert vorübergehen. Lämmer rufen nach ihren Müttern, die Mütter rufen zurück oder unterhalten sich über ihre neuen Frisuren – so genau kenn ich mich da noch nicht aus. Aber es ist definitiv ganz schön laut!

Nicht jedes Schaf mag das Scheren. Manche sind Profis – sie wissen, was kommt, halten still und lassen es über sich ergehen. Und manche wissen, was kommt – und fangen an zu zappeln. Da gibt es sehr unterschiedliche Temperamente, und bei manchen muss der Scherer die Schur unterbrechen und das Tier erst beruhigen und wieder richtig hinlegen, bevor es weitergehen kann. Wenn alles gut läuft, wirkt es fast wie ein Tanz mit dem Schaf, wie der Scherer es hält und dreht und mit den Beinen dirigiert.

Scherer beim Scheren eines Coburger Fuchs
Ein Coburger Fuchs wird vom Vlies befreit.

Schafscherer sein, vor allem hauptberuflich, ist ein Knochenjob. In seinem besten Jahr, erzählt er, hat er mal über 26 000 Schafe geschoren. Huiuiui. Das sind eine Menge Schafe. Aber es gibt bei den Scherern, wie auch bei den Schäfern, Nachwuchsprobleme, vor allem bei den Hauptberuflichen. Letztes Jahr haben wieder drei Scherer aufgehört. Wenn man mal annimmt, dass jeder im Jahr so ca. 10 000 bis 15 000 Schafe geschoren hat, dann haben dieses Jahr 30 000 bis 45 000 Schafe ein Problem. Geschoren werden müssen sie, das verlangt der Tierschutz. Aber was macht man als Schafhalter, wenn man keinen Schertermin bekommt? Den Scherer mit höheren Preisen anlocken? Mit Geld, was man über die Schafhaltung gar nicht mehr reinbekommt? Kann man sich Schafhaltung jetzt nur noch leisten, wenn man reich ist? Ich komme ganz schön ins Grübeln.

Immer wieder Neues lernen

Von einem Schafscherer, besonders von einem, der selber mal Schäfer war, kann man eine ganze Menge lernen. So wusste ich zwar, dass es Schafe mit einem (teilweisen) Wollwechsel gibt. Bei Shetlandschafen z. B. hat man zu einer bestimmten Zeit im Jahr einen sogenannten „rise“. An dieser Stelle werden die einzelnen Haare deutlich dünner, sodass sie eine Art Sollbruchstelle bekommen und man sie dort „raufen“ kann, d. h. man kann die Wolle direkt mit den Händen abziehen. Das tut den Schafen nicht weh. Was ich nicht wusste: Ein kleines bisschen ist das auch bei anderen Schafrassen so. Das ist das, was man bei Wolle als „schön abgewachsen“ bezeichnet. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr (der offenbar von Rasse zu Rasse variiert), ist die Wolle abgewachsen, d. h. sie wird über der Haut etwas dünner, sodass sie auch dort leicht zu scheren ist. Wenn man vor diesem Zeitpunkt schert, ist sie noch nicht abgewachsen und der Scherer hat wirklich große Mühe, sich durch die Wolle zu kämpfen. Manchmal kann der Scherer auch nicht unterscheiden, ob er jetzt eine dicke Stelle Wolle schert oder ob da eine Hautfalte im Weg ist. Die Verletzungsgefahr für das Schaf ist also deutlich höher, wenn die Wolle noch nicht richtig abgewachsen ist. Dementsprechend kann man sich den Schurtermin nicht einfach so legen, wie man es gerne hätte, sondern ist auch da an den Haarzyklus gebunden. Wieder was gelernt.

Scherer beim Scheren eines Coburger Fuchs
Nochmal etwas näher bei der Schur des Coburger Fuchs: Die hellere Schicht Wolle, die unterhalb der Hand des Scherers auf dem Vlies liegt, war sehr dicht und ließ sich nur sehr schwer scheren. Ich konnte richtig sehen, wie er Kraft dafür aufwenden musste.

Interessanterweise hatte ich gerade zu diesem Thema einen Blogartikel von Irina von driftwool gelesen. Sie hatte mal die Literatur nach Untersuchungen zum Haarwachstum durchforstet und einen Übersichtsartikel geschrieben. Sehr interessant!

Bei der Schur einer etwas älteren Wensleydale-Dame kamen wir auch auf Wollqualität zu sprechen. Offensichtlich ist es auch so, dass vor allem bei Schafrassen, die wegen ihrer Wolle gezüchtet werden (viele englische Rassen), die Wollqualität mit zunehmendem Alter des Schafes stark abnimmt. Bis zu einem Alter von 4 Jahren ist die Wolle wohl noch in Ordnung, danach wird sie zunehmend schlechter.

Mutterschafe nach der Schur
Nach der Schur geht es unter lautem Geblöke wieder zurück auf die Weide.

Schafhaltung braucht community

Um 15 Uhr ist es dann geschafft. Das letzte Schaf geschoren und behandelt, jetzt geht es ans Aufräumen. Sieben Stunden gearbeitet, 14 Leute. Schafe halten ist definitiv etwas, was man nicht alleine als Einzelperson macht. Viele Dinge und Dienste kann man auch gar nicht mit Geld bezahlen oder in Geld ausdrücken. Was hätte es gekostet, 14 Menschen für 7h einen Mindestlohn zu bezahlen? So funktioniert Schafhaltung (und auch Landwirtschaft) irgendwie nicht.Man braucht eine community, Leute, die sich gegenseitig unterstützen und unter die Arme greifen, ohne nach Geld zu fragen. Die Enthusiasmus oder wenigstens Hilfsbereitschaft mitbringen, die sich einbringen wollen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Die eine Verbindung aufbauen oder erhalten wollen. Die einen Unterschied machen wollen. Und es macht definitiv einen Unterschied, ob man mit dem Scherer alleine auf der Weide steht oder Menschen hat, die einen unterstützen.

Ich weiß jedenfalls, wo mein Ouessant-Schaf gestanden hat, und ich hab auch noch seine Wolle vom letzten Jahr, und wenn ich noch ein kleines bisschen sammele, reicht es vielleicht auch noch für einen Pullover.

Kathrin glücklich und geschafft nach der Schur
Glücklich und geschafft nach der Schur. Nächstes Jahr bin ich wieder dabei!

Warum ist manche Wolle kratzig?

Viele Menschen denken beim Thema „regionale Wolle“ nur eins: kratzig. Aber warum wird Wolle eigentlich als weich oder als kratzig empfunden? Und ist regionale Wolle wirklich immer kratzig? In diesem kurzen Artikel gehe ich dem ein wenig auf den Grund.

Ob Wolle als weich oder kratzig empfunden wird, hängt im Wesentlichen von 3 Faktoren ab. Und ein Spoiler vorab: man kann sich auch an verschiedene Stadien der Weichheit herantasten.

Faktor 1: Die Fasereigenschaften

Faserdurchmesser und Biegsamkeit

Wie kratzig ein Kleidungsstück empfunden wird, hängt mit dem Durchmesser und der Biegsamkeit der Fasern zusammen, aus denen es hergestellt wurde.

Die Faserdicke (bzw. der Faserdurchmesser) wird in Mikrometer (auch Micron genannt) angegeben, also in tausendstel Millimeter (10-6 m). Mir persönlich sagen die Zahlen immer nicht so viel, daher habe ich die Durchmesser verschiedener Faserarten einmal im Verhältnis zueinander in die folgende Abbildung getan.

Faserdurchmesser verschiedener Fasern
Verhältnis verschiedener Faserdurchmesser zueinander. Die Kreise habe ich mit den unten angegebenen Werten in PowerPoint erstellt (1000fache Vergrößerung, 50 µm wurden zu 50 mm).
1 = menschliches Haar, ca. 50 µm;
2 = Corriedale, 27 µm,
3 = Austral. Merino, 17 – 22 µm, abgebildet: 20 µm,
4 = Kaschmir, 16 µm
5 = Baumwolle, 10 – 14 µm, abgebildet: 12 µm
Wenn Du Dich jetzt fragst, wie das mit Alpaka-Fasern ist: Das ist nochmal eine Klasse für sich. Von „Royal“ (19 µm) bis „Alpaka“ (30 µm) ist da alles dabei. Die Feinheit von Alpaka-Fasern kann also zwischen „fast Kaschmir“ und „grob wie Corriedale“ variieren.
(Angaben aus dem Science and Technology Program vom Woolmark Learning Centre, Kurs Wool Fibre Science, Module 3 und 7, Topic 3 sowie diese Webseite für Alpaka)

Je feiner eine Faser ist, desto kleiner ist die Micron-Zahl (also ihr Durchmesser). Feine Fasern biegen sich leichter als dickere Fasern. Fasern, die sich sehr leicht biegen, üben weniger punktuellen Druck auf die Haut aus, reizen die Nervenenden weniger und werden daher als weniger kratzig empfunden.
Dementsprechend werden dickere Fasern auch als pieksiger und unangenehmer empfunden.

Schafe haben nun nicht überall Fasern mit identischen Durchmessern, sondern immer eine Mischung aus verschieden dicken Fasern, einen sogenannten Durchmesserbereich (z. B. 24–32 µm).

Aber Achtung: selbst wenn zwei Wollproben den gleichen Durchmesserbereich haben (z. B. 24 – 32 µm), können sie sich im Gefühl dennoch unterscheiden. Der Grund hierfür liegt in der Verteilung der Durchmesser. Wenn Probe 1 (rot) z. B. deutlich mehr 24 µm-Fasern enthält und Probe 2 (grün) mehr 28 µm-Fasern, wird Probe 1 als weicher wahrgenommen.

Diagramm Durchmesserverteilung bei Fasern und Prickle Factor
Versuch einer Visualisierung der Verteilung von Faserdurchmessern in einer Woll-Probe (Durchmesser-Bereich). Der Durchmesserbereich ist bei beiden Proben ähnlich. Die grüne Probe enthält jedoch im Vergleich zur roten Probe weniger 24 µm-Fasern und mehr 26 µm-Fasern und darüber. Die rote Probe wird dementsprechend als weicher empfunden.

Auch die Schuppenhöhe der Fasern scheint einen Einfluss auf die empfundene Weichheit zu haben. In diesem Artikel kannst Du noch mehr zum Aufbau der Wollfasern nachlesen.

Und dann gibt es noch die kleinen fiesen Stichelhaare. Der Name sagt da einfach mal alles. Stichelhaare sind sehr kurze und sehr spröde Haare, die sich nur schwer biegen und als sehr kratzig empfunden werden. Oftmals kommen sie in Vliesen von mischwolligen Schafen vor (in Garnen aus australischer Merino wirst Du sie definitiv nicht finden). Sie haben die unangenehme Eigenschaft, immer irgendwie an die Oberfläche zu kommen, egal wie tief sie einkardiert wurden. Wenn man die nicht entfernt, bevor man ein Garn aus den Fasern spinnt, dann bekommt man so eine Art Pfeifenputzergarn. Sehr … sagen wir mal: durchblutungsfördernd. Stichelhaare sind aus meiner Erfahrung die pieksigsten Bestandteile von Garnen überhaupt.

Nahaufnahme Stichelhaare Skuddevlies
Nahaufnahme eines Skudde-Vlieses vor dem Waschen. Die Pfeile zeigen auf prominente Stichelhaare, rechts sogar ganze Büschel davon. Wenn man diese Vliesteile zu Garn verarbeitet, bekommt man einen prima Scheuerschwamm.

Der Wool Comfort Factor – Maßeinheit für Weichheit

Wie pieksig Wolle ist, kann man sogar messen. Dafür wurden bereits 2012 spezielle Geräte , die sogenannten „wool comfort meter“, entwickelt und mit tausenden Verbrauchern getestet. Hier findest Du ein sehr informatives Video dazu.

Dieses Gerät bestimmt im Grunde genommen die Anzahl der abstehenden Faserenden auf einer gegebenen textilen Fläche (und ggf. noch ihren Durchmesser). Der ausgegebene Messwert, also die „Maßeinheit der Weichheit“ sozusagen, ist der Wool Comfort Factor. Er gibt den Anteil an Fasern einer Probe an, die feiner als 30 µm (bzw. 28 µm für gewebte Textilien) sind. Je niedriger die Zahl, desto angenehmer ist das Textil auf der Haut.

Die 30 µm-Grenze ist also eine Art Magische Schallgrenze – Fasern darüber gelten als grob.

Faktor 2: Persönliches Empfinden

Manche Menschen reagieren empfindlicher als andere auf die Berührung mit Wollfasern. Während ich Wolle von Rauhwolligen Pommerschen Landschafen auch am Hals tragen kann, ist anderen Menschen selbst Deutsche Merino noch zu kratzig. Die Haut reagiert dann einfach sensibler auf die „Pieks-Reize“ (der englische Begriff „Prickle Factor“ wird oft dafür verwendet, nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Wool Comfort Factor).

Das Pieksen selbst wird durch die Fasern ausgelöst, die auf die Haut drücken. Dadurch reizen sie feine Nervenenden in der Haut. Drücken die Fasern nur ganz leicht auf die Haut, wird eine Faser als weich empfunden, drücken sie stärker und dellen die Haut stärker ein, werden sie auch als kratziger empfunden. Ein bisschen lässt sich das vielleicht mit weichen oder harten Zahnbürsten vergleichen. Weiche Borsten reizen die Haut weniger als harte, weil weiche Borsten weniger punktuellen Druckreiz ausüben.

Schematische Darstellung Prickle Factor
Ich habe mich hier mal an einer Zeichnung versucht. Links sind die feineren, biegsamen Fasern zu sehen, die die Nervenenden in der Haut (gelbe Verästelungen) weniger reizen. Rechts sind weniger biegsame Fasern mit höherem Prickle Factor gezeichnet.

Und hier kommt aus meiner Sicht das individuelle Empfinden ins Spiel. Diese Magische Schallgrenze von 30 µm ist ein Wert, der aus der Befragung tausender Probanden ermittelt wurde. Aber wie bitte bildet man den Mittelwert aus individuellen Empfindungen? Es ist der Versuch, Gefühle in Zahlen auszudrücken – ein reichlich schwieriges Unterfangen.

Es gibt etliche Schafrassen, deren Wolle nahe oder jenseits der 30 µm-Grenze liegt, die aber dennoch an der Haut getragen werden können. Dazu gehören beispielsweise Gotländisches Pelzschaf (28 – 32 µm), Wensleydale (30 – 36 µm) und Skudde (32 – 40 µm): Alle diese Fasern kann ich problemlos auf der Haut tragen, sogar am Hals. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen, sondern es war ein Prozess, in dessen Verlauf sich mein Empfinden für Wolle verändert hat.

Ehrlicherweise muss ich aber auch sagen: Nicht jedes Garn bzw. jede Faser ist dafür gemacht, an der Haut getragen zu werden.

Faktor 3: Verarbeitung der Faser und des Textils

Letztlich entscheidet auch immer die Verarbeitung der jeweiligen Faser darüber, wie sie auf der Haut empfunden wird. Wurde die Faser fest oder locker gesponnen? Wurde der Faden gewebt oder gestrickt (und auch hier wieder: locker oder fest)? Welche Art Textil wurde hergestellt und wofür wird es verwendet – Schal, Pullover, Socken?

Fasern, die mit zu viel Drall gesponnen wurden, ergeben immer ein Garn, das sich relativ hart anfühlt. Ein hartes Garn kann weder durch Weben noch durch Stricken oder Häkeln flauschiger werden.

Manchmal wird ein Garn weniger kratzig, wenn man die Fasern beim Spinnen glattstreicht (wie z. B. bei einem Kammgarn). Es stehen dann nicht so viele Enden nach außen, die die Haut reizen können. Dafür muss man aber Abstriche bei den Isolationseigenschaften machen.

Meine persönliche Entdeckungsreise jenseits des Flausch-Lands

Früher war für mich „weich“ das Hauptkriterium beim Wollkauf, gleich nach „Farbe“. Irgendwann begann ich mich aber dafür zu interessieren, wie sich die Wollen verschiedener Schafrassen voneinander unterscheiden. Ich fing also an, zu spinnen. Und da öffnete sich eine ganz neue Welt. „Weich“ gab es auf einmal in vielen Varianten. „Weich“ reichte nicht mehr aus, um eine Empfindung zu beschreiben. Es gab trocken-weich, bouncy, seidig und glatt, matt und flauschig, griffig und elastisch … und ja, es gab auch kratzige Wolle. Aber nur, wenn sie Stichelhaare enthielt.

Strickprobe Skudde Armband Prickle Factor
Dieses Armband war quasi eine Strickprobe von Frodo, der bunten Skudde. Man sieht deutlich, wie viele Härchen aus dem Garn herausstehen, aber es ist so weich und flauschig, dass ich tagsüber vergessen habe, dass ich es trage!

Das beste Beispiel ist Skudde-Wolle. Skudde hatte ich bis dahin noch nie verarbeitet, aber jede(r), mit dem/ der ich über Skudden sprach, wusste zu berichten, dass das sehr kratzige Wolle ist. Erst als ich für mich selbst eine Spinn- und Strickprobe anfertigte, stellte ich fest, dass dem gar nicht so ist!

Für mich hat sich also das alte Sprichwort bestätigt: Probieren geht über Studieren. Und jeder empfindet „weich“ und „kratzig“ ja anders. Ich habe mich an verschiedene Stadien von „weich“ gewöhnt und so neue Erfahrungen gewonnen.

Vielleicht muss man auch mal überlegen, wie man „weich“ oder „kratzig“ definiert. Oder ob man sein Vokabular um Begriffe wie „wollig“, „griffig“, „elastisch“ oder „seidig glänzend“ erweitert. Und vielleicht muss ein Garn auch nicht immer nur weich sein. Aber das ist ein Thema für einen anderen Blogartikel…


Literatur

Barbara Aufenanger „Das Wollprojekt. Wolleigenschaften in Deutschland gehaltener Schafrassen“. ISBN 978-3-00-040686-7

Deborah Robson, Carol Ekarius „Fleece and Fiber Sourcebook“. ISBN 978-1-60342-711-1

Was ist eigentlich “Superwash”?

Das Thema “superwash” -Ausrüstung bei Handarbeitsgarnen ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus gerückt. Dass dahinter oft Chemie und damit verbunden teils beträchtliche Folgen für die Umwelt einhergehen, wissen mittlerweile viele. Und schon steht man vor einem Dilemma: Die Farben sind ja wirklich toll, aber das schlechte Gewissen der Umwelt gegenüber ist immer da. Nur: bedeutet “superwash” immer auch “umweltschädlich”? In letzter Zeit wurden deutlich umweltfreundlichere Verfahren entwickelt, die sogar Standards wie GOTS und OekoTex genügen.

Warum filzt Wolle eigentlich?

Wolle filzt, wenn sich nebeneinanderliegende Fasern unauflöslich miteinander verhaken. Verantwortlich für das Verhaken sind die Schuppen auf der Faseroberfläche. In diesem Artikel hier gehe ich auf den Aufbau von Wollfasern detaillierter ein, wenn Dich das interessiert.

Die Schuppen geben der Faser sozusagen eine Richtung, die man spüren kann, wenn man eine Locke zwischen die Finger nimmt und sie einmal von der Wurzel zur Spitze durch die aneinandergedrückten Finger zieht und einmal in umgekehrte Richtung. In Richtung der Spitze gleitet es deutlich leichter. Dieser Effekt nennt sich “direktionaler Reibungseffekt” (directional friction effect). Er sorgt auch dafür, dass z.B. Schmutz von der Wurzel zur Spitze transportiert und somit aus dem Vlies entfernt werden kann.

Schematische Darstellung des Filzens von Wollfasern
Ich kann nicht besonders gut zeichnen, schon gar nicht mit digitalen Programmen, aber ich denke, es ist erkennbar: Die Fasern haben durch die Schuppenstruktur eine Richtung, und wenn sich die Schuppen verhaken, geht es weder vor noch zurück – die Fasern sind verfilzt.

Der Prozess des Verfilzens wird zwar immer mit diesem direktionalen Reibungseffekt erklärt, aber bis ins allerletzte Detail ist er offenbar noch nicht verstanden (dabei ist Filzen eine der ältesten textilen Techniken überhaupt!). Für den genauen Mechanismus werden in der Literatur verschiedene Modelle beschrieben (Fu et al. 2015 erwähnt z.B. den Shorter’s Mechanismus), allerdings muss ich gestehen – so richtig gut vorstellen kann ich es mir nicht. Mein (etwas diffuses) Verständnis ist dieses: Wenn Fasern nicht parallel liegen, sondern in unterschiedlichen Richtungen aufeinandertreffen und sich bei Bewegung mit ihren Schuppen verhaken, dann kommen sie nur noch vor und nicht mehr zurück, und wenn sie dann weiter bewegt werden, kommen sie irgendwann weder vor noch zurück und sind verfilzt. Parallel und gleichartig orientiert liegende Fasern verfilzen weniger leicht.

Allgemein lässt sich als Faustregel sagen:

  • Feine Fasern filzen leichter als gröbere Fasern
  • Fasern mit ausgeprägterer Schuppenstruktur (also solche mit höheren Schuppen) filzen leichter

Interessanterweise gibt es in der Tat einige Schafrassen, die deutlich weniger zum Filzen geeignet sind bzw. den Ruf haben, gar nicht zu filzen (Down-Rassen z.B. wie Southdown). Es wäre spannend zu wissen, inwieweit sich die Faserstruktur der Down-Rassen z.B. von Merino unterscheidet und wie genau das dann das Filzverhalten beeinflusst. Wenn sich jemand mit mir dazu austauschen möchte…immer gerne! Es gibt jede Menge wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema, nur leider habe ich keinen Zugang mehr zu einer Uni-Bibliothek.

Wenn Wolle nicht filzen soll, müssen demnach irgendwie die Schuppen auf der Oberfläche der einzelnen Fasern verändert werden.

Warum soll Wolle filzfrei sein?

Verbraucher*innen wünschen sich heute pflegeleichte Kleidungsstücke. Dementsprechend wird erwartet, dass auch Textilien aus Wolle oder mit Wollanteil maschinenwaschbar und trocknergeeignet sind. Den Wünschen und Vorstellungen der Verbraucher folgend hat die Textilindustrie daher Verfahren entwickelt, mit denen in großem Maßstab genau das erreicht wird.

Ob auf chemischen, physikalischem oder enzymatischem Wege, eines ist allen Verfahren gemeinsam: sie alle verändern die Schuppenstruktur an der Oberfläche der Wollfasern, um das Verhaken der einzelnen Fasern miteinander zu verhindern. Dabei müssen die Schuppen offenbar gar nicht komplett entfernt werden (Zahn et al. 2012).

Beachte: bei den im folgenden beschriebenen Verfahren berücksichtige ich nur die, die für Fasern oder Garne verwendet werden können. Es gibt weitere Verfahren, die z.B. nur auf gewebten Textilien angewendet werden können, auf diese gehe ich aber in diesem Artikel nicht ein.

Chemisch: Das Chlor-Hercosett-Verfahren

Das erste Verfahren, mit dem Wolle filzfrei ausgerüstet werden konnte, war das Chlor-Hercosett-Verfahren. Es wurde von der CSIRO (Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation) und The International Wool Secretariat in den 1970er Jahren entwickelt und wird mittlerweile in über 20 Fabriken weltweit eingesetzt (Rippon et al. 2016).

In diesem Verfahren wird die Wolle (die lose Wolle oder Kammzüge) mit Chlor behandelt. Dadurch wird die Grundsubstanz der Faser, das Keratin, an der Oberfläche chemisch verändert (für die chemisch Interessierten: es werden sämtliche zugänglichen Disulfidbrücken in den Fasern gespalten und auch ca. 60% der Oberflächenlipide der Epicuticula entfernt). Dadurch wird die Oberfläche hydrophiler (= wasserliebender) und erleichtert so z.B. auch das Eindringen der Farbstoffmoleküle über den interzellulären Raum in das Innere der Fasern. Dieser Zustand ist nicht besonders stabil, daher werden die Fasern in der Regel anschließend noch mit einem Polymer überzogen.

Das Verfahren läuft in folgenden Schritten ab:

  1. Chlorierung. Die Fasern werden dafür in eine Lösung gelegt, die entweder in Wasser eingeleitetes Chlorgas ist (Kroy-Hercosett-Prozess, siehe Zahn et al. 20212) oder aber mit Schwefelsäure angesäuertes Natriumhypochlorit (dieses Verfahren ist etwas milder). Dabei wird ein Großteil der kovalent an der Faseroberfläche gebundenen Lipide entfernt, Disulfidbrücken gespalten und die Faseroberfläche hydrophiler (d.h. wasserliebender) gemacht (s.o.).
  2. Neutralisation mit Sulfit-Lösung.
  3. Überzug mit einem reaktiven kationischen Polymer. Ursprünglich war das eine Polyamid/Epichlorohydrin-Verbindung namens Hercosett 57, mittlerweile werden auch andere Verbindungen benutzt (z.B. Hercosett 125).
  4. Zusatz weiterer Prozesshilfen (z.B. Benetzungsmittel, Weichspüler) und Trocknen, um das Polymer auf der Faseroberfläche zu vernetzen.

Der wichtigste Schritt (nämlich der, der das anschließende Filzen verhindert) ist die Chlorierung. Auch ohne den Polymerüberzug sind die Fasern dann filzfrei, allerdings können die chemisch veränderten Proteine auch ausgewaschen werden und somit ist die filzfrei-Ausrüstung noch nicht wasch- und trocknerfest. Verläßlich und dauerhaft filzfrei werden die Fasern erst durch das Aufbringen des Polymers. Die Chlorierung macht die Faseroberfläche auch hydrophiler und somit besser benetzbar für Wasser, Farbstoffe oder eben das Polymer.

Statt des Chlors wird mittlerweile auch PMS verwendet (…nein, nicht das PMS. Permonoschwefelsäure, HOOSO3H, wen es interessiert). Mit dieser Methode werden allerdings keine Oberflächen-Lipide entfernt.

Das große Problem der Hercosett-Verfahren ist, ihr ahnt es schon: die Abwässer. Sie enthalten große Mengen Organische Chlorverbindungen und sind hochgradig umweltschädlich. Seit Jahrzehnten wird daher nach Alternativen gesucht und geforscht, von denen aber nur wenige in industriellem Maßstab zufriedenstellende Ergebnisse liefern.

Neuere Entwicklungen z.B. der Firma Schoeller verwenden andere Oxidationsmittel und sogenannte Micropatches aus “ökologischen Polymeren”, d.h. sie ummanteln die Fasern nicht mehr komplett sondern nur noch netzartig. Dieses Verfahren erfüllt die Anforderungen verschiedener Standards, u.a. GOTS.

Enzymatisch: Das Proteolytische Verfahren

Umweltfreundlichere Verfahren verwenden Enzyme, um die Oberfläche der Fasern so zu verändern, dass sie filzfrei werden. Die Enzyme können in einer gepufferten wäßrigen Lösung arbeiten und es entstehen dabei keine toxischen Abfallprodukte. Die Enzyme selbst werden meist biotechnologisch hergestellt, d.h. aus Bakterienkulturen gewonnen. Die verwendeten Bakterien enthalten die Enzyme entweder von Natur aus oder könnten genetisch verändert worden sein, um die Enzyme herzustellen.

Was machen die Enzyme? Enzyme sind Proteine, die chemische Reaktionen beschleunigen können (man sagt, sie haben eine katalytische Funktion). In unserem Falle sind es Proteasen, das heißt, sie bauen Proteine ab. Die chemische Reaktion, die sie beschleunigen, ist also die “hydrolytische Spaltung von Peptidbindungen”, oder Proteolyse.

Wolle ist selbst auch ein Protein und kann daher von Proteasen abgebaut werden. Das ist übrigens auch ein Grund, warum man Wolle nicht unbedingt mit herkömmlichem Waschmittel waschen sollte – die in Waschmitteln enthaltenen Enzyme sind oft Proteasen, die die Wolle angreifen und abbauen können.

Die Schwierigkeit ist nun, die Fasern nicht komplett zu zerstören, sondern nur die Schuppenstruktur an der Oberfläche. Die Proteasen dürfen also nur ein bißchen knabbern, und sie dürfen auch nicht in das Innere der Wollfasern gelangen. Wenn sie da erst mal sitzen, knabbern sie womöglich fröhlich weiter, bis die gesamte Faser abgebaut ist. Technisch wird das oft so gelöst, dass die Proteasen an Polymere gekoppelt werden (zum Beispiel Polyethylenglycol). Dadurch werden sie so groß, dass sie nicht mehr zwischen den Schuppen in die Fasern gelangen können und somit nur noch die Faseroberfläche als Angriffspunkt haben (s. Abbildung).

Schematische Darstellung der Protease-Behandlung von Wollfasern
Auch hier gilt wieder: ich kann nicht gut zeichnen. Die PacMan-artigen Gebilde sollen die Proteasemoleküle sein. Sie sind so klein, dass sie sich ohne weiteres ins Innere der Fasern vorarbeiten können (oberes Bild). Wenn sie hingegen chemisch an Polymere gekoppelt werden, die um ein Vielfaches größer sind als sie selbst (blaue Kugeln), dann können sie nicht mehr in das Innere vordringen. Sie sind quasi an den Kugeln immobilisiert und können nur noch von außen die Fasern angreifen. Aber auch hier gilt: Wenn man sie lange genug gewähren lässt, können sie auch in dieser Form die Fasern nachhaltig schädigen und letzten Endes abbauen.

Es gibt mittlerweile mehrere Verfahren, eines davon ist in Deutschland entwickelt worden und kann auch in größerem Maßstab eingesetzt werden (das ProLana-Verfahren von Dr. Petry). Der Knackpunkt ist: die Wolle ist nicht ganz so filzfrei wie mit dem Hercosett-Verfahren behandelte. Es gibt Richtwerte, die man einhalten muss, um die Wolle “superwash” nennen zu können, und diese Richtwerte können mit den verfügbaren enzymatischen Verfahren offenbar (noch) nicht ganz eingehalten werden (hier wird ein wenig darauf eingegangen). Man darf aber gespannt sein, ob durch weitere Forschung hier nicht doch noch ein Durchbruch erzielt werden kann.

Enzymatische Verfahren benötigen immer noch Wasser (und natürlich Nährlösungen für die Bakterien), aber ich gehe davon aus, dass die Abwässer längst nicht so umweltschädlich sind wie beim Hercosett-Verfahren.

Physikalisch: Das Plasma-Verfahren

Das dritte mir bekannte Verfahren, um Wolle filzfrei zu machen, ist das sogenannte Plasma-Verfahren.

Was ist denn bitte ein Plasma? Ein Plasma ist in unserem Falle ein Gasgemisch, das durch elektrische Entladung einen bestimmten Anteil geladener (=”ionisierter”) Teilchen enthält. Diese geladenen Teilchen können dann die Faseroberfläche verändern.

Die zu behandelnden Fasern werden in eine Kammer eingebracht. In diese Kammer wird ein Gasgemisch eingeleitet, das aus einem inerten Trägergas (z.B. Helium, ein Edelgas.”inert” meint, dass es selbst nicht an der Reaktion beteiligt ist) und einem Plasma-generierenden Gas (z.B. Sauerstoff, Stickstoff oder Luft) besteht. Durch elektrische Entladungen wird in der Kammer das Plasma erzeugt. Das Plasma verändert dann die Faseroberfläche, indem es, mal ganz grob formuliert, Löcher und Mikrokrater bis zu einer Tiefe von 5nm in die Oberfläche schießt. Auch hierbei werden höchstwahrscheinlich die Oberflächenlipide entfernt, die Fasern so hydrophiler (=wasserliebender) gemacht sowie die Disulfid-Brücken gespalten.

Plasma-Verfahren sind deutlich umweltfreundlicher als das Hercosett-Verfahren, weil keine schädlichen Abfallprodukte entstehen und somit die Umwelt nicht dadurch belastet werden kann. Nicht einmal Wasser wird benötigt, lediglich die Energie, die zur Plasma-Erzeugung erforderlich ist, und die könnte z.B. aus Ökostrom kommen.

Allerdings ist der Durchsatz auch nicht besonders hoch, so dass diese Methode im industriellen Maßstab zwar angewendet wird, aber keine so große Rolle spielt. Und auch hier ist die Wolle anschließend offenbar nicht so zuverlässig filzfrei wie mit den chemischen Verfahren. Für das Bedrucken von Stoffen hingegen eignet sich diese Methode hervorragend.
Ein Beispiel für einen kommerziellen Plasmaprozess findet ihr bei Südwolle. Dieses Verfahren ist unter anderem für GOTS und Oeko-Tex zertifiziert.

Muss Wolle nun immer filzfrei sein?

Superwash oder nicht – bei diesem Thema scheiden sich die Geister. Während es für die einen nichts mehr mit der ursprünglichen Faser zu tun hat und eher abwertend als “Harzfaser mit Keratinkern” bezeichnet wird, begeistern sich andere für die leuchtenden Farben und das pflegeleichte handling (gerade für Dinge, die oft gewaschen werden, z.B. Babysachen). Die Wahrheit findest Du nur für Dich heraus, indem Du ausprobierst, was für Dich am besten funktioniert.

Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sich superwash-behandelte Fasern anders verhalten als unbehandelte. Durch eine Verwechslung habe ich einmal superwash-behandeltes statt unbehandeltes Cheviot geliefert bekommen. Während des Spinnens ist mir das zwar nicht so aufgefallen. Beim anschließenden Färben haben die superwash-Garne aber definitiv die Farben besser aufgenommen (wie ich in diesem Experiment selbst festgestellt habe).

Durch die veränderte Schuppenstruktur haben die Garne oft einen anderen Fall als unbehandelte Garne. Es kann auch sein, dass z.B. Pullover nach dem Waschen länger werden, weil eben die Schuppen nicht mehr so gut zusammenhalten, die Fasern mehr aneinander vorbeigleiten und die Strickstücke so ihre Form etwas verlieren. Möglicherweise lässt sich das aber beim Stricken auch durch ein festeres Maschenbild ausgleichen.

Eine sehr umfassende Übersicht zum Thema “filzfrei” findet sich übrigens auch bei Ulrike Bogdan in ihrem eBook “Von Fasern, Farben und Fäden. Eine Anstiftung zum selbstbestimmten Umgang mit Textilien” . Sie geht dabei auch auf Textilsiegel ein – sehr lesenswert! (Kann man HIER kaufen).

Wenn man sich heute für Superwash- oder filzfrei ausgerüstete Garne oder Fasern entscheidet, gibt es durchaus umweltfreundliche und nachhaltige Optionen. Allerdings steht selten auf dem Etikett, mit welchem Verfahren das Garn bearbeitet wurde – dafür braucht es Transparenz von Herstellern und Färbern. Und es braucht Kunden, denen diese Informationen wichtig sind und die sie einfordern.


Literatur

Ulrike Bogdan “Von Fasern, Farben und Fäden. Eine Anstiftung zum selbstbestimmten Umgang mit Textilien”, 2015

David M Lewis, John A. Rippon (Editors): “The Coloration of Wool and other Keratin Fibres” (2013, Wiley, ISBN 978-1-119-96260-1)

Jeffrey E. Plowman et al.: “Differences between ultrastructure and protein composition in straight hair fibres.” Zoology (Jena) 2019 Apr;133:40-53. doi: 10.1016/j.zool.2019.01.002. Epub 2019 Feb 1.

John A. Rippon et al. (2016) WOOL: STRUCTURE, PROPERTIES, AND PROCESSING ( Wiley online 15 May 2016 https://doi.org/10.1002/0471440264.pst402.pub2)

Jiajia Fu et al., “Enzymatic processing of protein-based fibers” Appl Microbiol Biotechnol (2015) 99:10387-10397

Zahn H. et al. “Wool” Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry (2012) Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

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