Kennt ihr das auch? Ihr habt ein schönes Garn gekauft, oder vielleicht habt ihr es sogar selbst gesponnen, und es sah soooo toll aus. Ihr macht eine Maschenprobe – super, passt! Genial! Und dann…wascht ihr die Maschenprobe und ihr seht sowas:

Eine Maschenprobe aus graubraunem Garn liegt auf einem schwarzen Stück Pappe. Der untere Teil der Maschenprobe ist glatt rechts gestrickt und neigt sich nach rechts, der obere Teil ist in einem Lochmuster gestrickt und nicht verzogen.
Eine gewaschene Maschenprobe aus industriell gesponnenem Garn. Im unteren, glatt rechst gestrickten Teil ist deutlich eine Neigung nach rechts zu erkennen.

Aaaargh!!!! Was ist das denn???

Das, ihr Lieben, ist die Sache mit dem Drall. Das fertige Strickstück verzieht sich in eine Richtung (auf Englisch nennt sich das „bias“). Woher das kommt, versuche ich in diesem Artikel einmal aus der Perspektive der Handspinnerin näher zu beleuchten. Mit einem Experiment natürlich 🙂

Was ist eigentlich Drall?

Drall ist die Drehung, die man den Fasern (oder einem Faden) beim Spinnen (oder Zwirnen) zufügt. In diesem Artikel habe ich schon mal darüber geschrieben und ein paar Begriffe erklärt. Wir brauchen Drall, um die Fasern zusammenzuhalten, und über die Dosis (also die Drallmenge) läßt sich steuern, welche Eigenschaften das fertige Garn haben wird (ob es z.B. weich oder hart wird). Spinndrall wird für Wollgarne in der Regel in Z-Richtung zugeführt, Zwirndrall in S-Richtung. Wie man die Drallmenge mittels einer Zwirnprobe (im engl. „ply back“-Probe) bestimmen kann, habe ich dort ebenfalls beschrieben.

Schematische Abbildung zur Bestimmung des Zwirnwinkels. Dargestellt sind ein S- und ein Z-verdrehtes Garn mit den darübergelegten Buchstaben S und Z sowie der Zwirnwinkel
Hier sind noch einmal kurz die Drallrichtungen S und Z sowie der Zwirnwinkel schematisch dargestellt.

Man kann sich Drall als eine Energie vorstellen, die quasi im Faden gespeichert wird. Wenn ich beim Spinnen z.B. ein hypothetischen Wert von „5“ an Energie zuführe, so muss ich beim Zwirnen einen Wert „-5“ (also denselben Betrag, aber in Gegenrichtung) zuführen, um am Ende ein ausgeglichenes Garn mit dem „Energiewert“ Null zu erhalten. Garne mit einem „Energiewert“ ungleich Null sind somit nicht ausgeglichen. (Ein besseres Wort als „Energiewert“ ist mir noch nicht eingefallen. Wenn Du einen treffenderen Begriff hast, lass es mich gerne in den Kommentaren oder unter hello@faserexperimente.com wissen! Und so ganz streng rechnerisch ist das auch nicht zu sehen, wie ich über die Jahre gelernt habe. Aber dazu weiter unten mehr.)

Was ist ein ausgeglichenes und was ist ein unausgeglichenes Garn?

Ein ausgeglichenes Garn hat ungefähr gleich viel Spinndrall und Zwirndrall („Energiebetrag“ ist gleich oder nahezu null, wir erinnern uns). Dadurch, dass sich Spinn- und Zwirndrall (nahezu) ausgleichen, hängt es im Strang gerade herunter und verdreht sich nicht oder nur ganz leicht in sich selbst.

Ein unausgeglichenes Garn hat im Gegensatz dazu mehr Spinn- als Zwirndrall (oder auch umgekehrt) und enthält dementsprechend noch einen „Restbetrag“ Energie. Diese Energie sucht sich selbst den Ausgleich, indem der Strang entsprechend nicht gerade herunterhängt, sondern sich mehr oder weniger stark in sich selbst verdreht.

Um das Spektrum der Möglichkeiten von „ausgeglichen“ bis „unausgeglichen“ in diesem Experiment einmal anschaulich darstellen zu können, wollte ich insgesamt 3 x 3 Zustände abbilden: wenig, normal und viel Spinndrall kombiniert mit wenig, normal und viel Zwirndrall. Diese 9 Proben schienen mir hinreichend repräsentativ zu sein. Also schnappte ich mir etwas Milchschafkardenband vom Dealer meines Vertrauens und spann mir 9 Strängelchen Garn. In dieser Tabelle könnt ihr sehen, welche Probe mit welcher Drallmenge gesponnen wurde:

Tabellarische Darstellung der 9 in diesem Experiment gesponnenen Proben. 1= W/W, 2=W/N, 3=W/H, 4=N/W, 5=N/N, 6=N/H, 7=H/W, 8=H/N, 9=H/H.
W = weich (untersponnen bzw. unterzwirnt); N = Normal; H = Hart (übersponnen bzw. überzwirnt)

Zuerst habe ich die Probe 5 „N/N“ gesponnen. Das war meine Referenzprobe, an der sich die weiteren Proben orientiert haben. Beim Spinnen habe ich eine Zwirnprobe angefertigt, d.h. ich habe den frisch gesponnenen Faden auf sich selbst zurückgefaltet, um den Zwirnwinkel für ein ausgeglichenes Garn zu bestimmen. Anschließend habe ich zwei Einzelfäden dem so bestimmten Zwirnwinkel entsprechend gezwirnt und mir notiert, wie viele Tritte pro 30cm Zwirnlänge ich dafür brauchte.

Für die Proben 4 „N/W“ und 6 „N/H“ habe ich zunächst die Einzelfäden genauso gesponnen wie die Referenzprobe 5. Beim Zwirnen habe ich zwar die gleiche Anzahl Tritte pro 30cm Zwirnlänge, aber die nächstkleinere Übersetzung für die Probe N/W bzw. die nächsthöhere Übersetzung für die Probe N/H verwendet.

Analog bin ich für die Proben mit wenig bzw. viel Spinndrall vorgegangen, die Zwirnprobe diente immer als Referenz für „normal“ gezwirntes Garn. Für die weich gesponnene und unterzwirnte Probe sowie für die hart gesponnene und überzwirnte Probe habe ich mangels weiterer Übersetzungen die Anzahl der Tritte halbiert bzw. verdoppelt, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Wie kann ich nun feststellen, ob mein Garn ausgeglichen ist?

1. Schau, wie der Strang hängt

Einen ersten Hinweis, ob Dein (gekauftes oder selbst gesponnenes) Garn ausgeglichen ist, erhältst Du (wie oben schon beschrieben) aus der Art und Weise, wie der Strang hängt. Aber beachte: die Bewertung, ob ein Garn ausgeglichen ist oder nicht, solltest Du erst nach dem Entspannungsbad treffen! Drall kann „einschlafen“ oder „sich setzen“, wenn beispielsweise ein Faden oder ein Garn lange auf einer Spule aufgewickelt war. Dadurch wird ein falsches „Energielevel“ des Stranges vorgetäuscht. Die Drehung im Strang vor dem Waschen ist daher nur bedingt aussagekräftig. Auf diesen Bildern sieht man das ganz eindrucksvoll, wie ich finde.

Links sind Garne mit gleicher Spinndrallmenge in Dreiergruppen zusammengefasst (also W/x, N/x und H/x). Rechts habe ich die Garne andersherum, nämlich mit gleicher Zwirndrallmenge zusammengefasst (entsprechend x/W, x/N, x/H).

Der Spinndrall war bei allen Strängen offenbar schon „eingeschlafen“, so dass der Zwirndrall die ungewaschenen Stränge sich deutlich in Z-Richtung eindrehen ließ. Nach dem Entspannungsbad war alles (entsprechend der gewählten Parameter) …nunja, deutlich entspannter *hüstel*. Wenn man genau hinschaut, kann man bei der rechten Dreiergruppe hart gesponnener Garne (Proben 7, 8 und 9) sogar erkennen, dass der Strang H/W (Probe 7) im ungebadeten Zustand eine leichte Z-Drehung aufweist, nach dem Baden jedoch eine S-Drehung (linker Pfeil)! Der H/H-Strang (Probe 9) hingegen ist sowohl vor als auch nach dem Waschen in S-Richtung verdreht (rechter Pfeil).

Wenn man die Stränge mit gleicher Zwirnung aber unterschiedlicher Spinndrallmenge nebeneinander hängt (rechte Abbildung), fallen die Unterschiede rein optisch nicht so stark ins Auge. Die weich gezwirnten Stränge haben eine ganz leichte Tendenz zu einer S-Drehung, die stark gezwirnten Stränge drehen sich leicht in Z-Richtung ein.

Man sieht auch ganz gut, dass die Unterschiede in den Drallmengen in den Strängen nicht dazu führen, dass sich die Stränge optisch signifikant darin unterscheiden, wie stark sie sich eindrehen. Meine Interpretation ist die, dass in Abhängigkeit von verwendeter Faser (Kräuselung, Dicke etc.) und der Anzahl verzwirnter Fäden vielleicht auch Reibungseffekte und Interaktionen zwischen den Fasern eine Rolle spielen und Drall „schlucken“. Zumindest konnte ich keinen linearen Zusammenhang zwischen den Dralldifferenzen und dem Verdrehen des Stranges feststellen. Und: obwohl ich wirklich signifikant unter- / überzwirnt habe, wirken etliche Garne im Strang fast ausgeglichen (spoiler: sie sind es nicht!).

2. Sieh Dir die Ausrichtung der Fasern im Faden an

Besser geeignet ist meiner Ansicht nach die Beurteilung der Faserrichtung in den Einzelfäden. Wenn man ganz genau hinschaut und die Ausrichtung der Fasern innerhalb eines Fadens betrachtet, kann man Unterschiede zwischen ausgeglichenen und nicht ausgeglichenen Garnen feststellen. Ich habe mal versucht, das schematisch darzustellen (frei nach einer Abbildung, die ich hier gefunden habe).

Bei einem ausgeglichenen Garn liegen die Fasern innerhalb des Einzelfadens parallel zum Faden. Ist das nicht der Fall, d.h. die Fasern neigen sich in eine Richtung, dann ist das Garn höchstwahrscheinlich nicht ausgeglichen.

3. Mach eine Maschenprobe

Eine klassische Maschenprobe von 10x10cm in glatt rechts mit ausgeglichenem Garn wird ein rechtwinkliges Strickstück ergeben. Ist das Garn nicht ausgeglichen, kann die 10x10cm Maschenprobe nach dem Stricken rechtwinklig aussehen, wird sich aber spätestens nach dem Waschen verziehen. Das konnte ich auch bei meinen Probesträngen sehr schön beobachten. Ich habe aus allen Strängen jeweils 2 kleine Pröbchen gestrickt und jeweils eines davon gewaschen, das andere blieb ungewaschen (3mm Nadeln, 15M angeschlagen, für 10 x 10cm hat es leider nicht gereicht). Die ungewaschenen Maschenproben sahen meist noch rechtwinklig aus (auch wenn besonders die hart gesponnenen so energiereich waren, dass sie sich partout nicht flach hinlegen wollten, sondern sich wie wild eingerollt haben und ich sie für das Foto mit dem Finger festhalten musste).

Was man an den Maschenproben wunderbar erkennen kann: alle überzwirnten Proben weisen eine (zumindest leichte) Neigung auf. Sehr schön ist auch zu sehen, dass sich das Strickstück bei unterzwirnten und überzwirnten Garnen in die entgegengesetzte Richtung verzieht – allerdings erst nach dem Waschen!

Und was ist mit den beliebten Single-Garnen?

Und wie ist das mit den beliebten Single Garnen, die ja gar nicht verzwirnt werden? Die müssten doch dann von vornherein unausgeglichen sein?

In der Tat: Wenn man mit einem nicht verzwirnten Garn z.B. glatt rechts strickt, wird sich das fertige Strickstück meist verziehen und eher einen Rhombus als ein Rechteck bilden. Aber. Man kann Single-Garne mit viel Gefühl und wenig Drall so spinnen, dass sie gerade so zusammenhalten. Zudem werden sie meistens noch leicht angefilzt, um sie zu stabilisieren (Chantimanou hat dazu hier und hier ein youtube-Video). Es ist durchaus möglich, dass das fertige Strickstück sich nicht verzieht. Hier gilt, mehr noch als bei allen anderen Garnen: mach eine Maschenprobe!

Menno, mein Garn ist nicht ausgeglichen – was nun?

Nur keine Panik! Du hast ja zum Glück eine Maschenprobe gemacht und weißt nun Bescheid. Dementsprechend kannst Du Dein Projekt umplanen – vielleicht wird es jetzt nicht mehr der Pulli in glatt rechts, aber Lochmuster funktionieren meist problemlos, und auch rechts-links-Muster, bei denen ungefähr gleich viele rechte wie linke Maschen vorkommen, rücken Dein Strickstück wieder gerade. Und manche Menschen machen auch ein Design – Element daraus oder stricken direkt von der Spule ab.


Wie sind Deine Erfahrungen mit nicht ausgeglichenen Garnen?

Wenn Du Dir diesen Artikel für später merken möchtest, kannst Du diese Bilder pinnen:

Eine verzogene Maschenprobe aus grauem Garn liegt auf einem schwarzen Untergrund. Darunter ist der Schriftzug "Hilfe mien Strickstück ist verzogen" zu lesen.
eine nach rechts verzogene Strickprobe aus grauem Garn liegt auf dunklem Untergrund. Darüber ist ein Textfeld gelegt mit dem Text "Die Sache mit dem Drall. Hilfe mein Strickstück ist verzogen!"